Als V-Mann zwischen Dealern und Terroristen (dpa)
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VP01 heißt er in den Akten - der V-Mann, der mit dem späteren Attentäter Anis Amri unterwegs war. Er ermittelte verdeckt für die Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen unter Dealern, Mördern, Dieben und schließlich unter Terroristen. Murat Cem ist sein Deckname, wie der „Spiegel“ Anfang März berichtete. In „Undercover - Ein V-Mann packt aus“ beschreiben die „Spiegel“-Reporter Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid detailliert seine Einsätze. Vor dem Terroranschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 hatte Cem die Polizei mehrfach vor Amri gewarnt. Die Autoren bezeichnen ihn als „wohl wichtigsten Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte“. Er wächst im Ruhrgebiet in einer türkischen Familie auf und fliegt Ende der 90er Jahre beim Drogenschmuggel auf. Mit Anfang 20 wird er zum V-Mann, weil er den Kick der Arbeit, die Anerkennung durch die Kripobeamten und das Geld genießt. V-Männer sind die Geheimwaffen der Polizei gegen Verbrecher und Extremisten. Und oft die einzige Chance, um Mörder zu überführen oder in abgeschottete Kreise von Drogenhändlern oder Terroristen vorzudringen. Sie werden Vertrauenspersonen (VP) genannt. Selten erfährt die Öffentlichkeit von ihren Einsätzen.

Als V-Mann auf ständiger Gratwanderung

Murat Cem wird auf Verdächtige angesetzt, um sie auszuhorchen. Was er dabei nicht darf: selber Straftaten begehen oder andere dazu drängen. Vertrauen unter Kriminellen gewinnt man aber nur, wenn man nicht zimperlich ist. Der V-Mann ist auf einer ständigen Gratwanderung. Die Regeln legt Cem „situationsbedingt“ aus, wie die Autoren schreiben.

Der junge Mann mit freundlichem Auftreten und fundierten Kenntnissen der Kleinkriminalität geht wochenlang auf Polizeikosten mit Dealern und Mördern trinken, zum Glücksspiel und ins Bordell, nimmt Drogen und plant große Rauschgiftgeschäfte. Bei der Übergabe des Stoffs schlägt dann regelmäßig ein Spezialeinsatzkommando (SEK) zu. Die Polizei lobt und bezahlt Cem. 100 Euro gibt es pro Tag in bar. Sie schickt ihn aber auch immer wieder in neue Einsätze, ohne Rücksicht auf sein Familienleben oder andere Jobs. Die Fahnder brauchen Erfolge, Cem genießt sein Leben als eine Art Geheimagent.

Kriminalpolizei setzt Cem auf Terroristen in NRW an

Von insgesamt 60 Einsätzen in 17 Jahren ist in dem Buch die Rede. Selten geht etwas schief. Einmal durchschaut ein türkischer Zuhälter mitsamt seiner Schlägertruppe in Köln Cem, trotzdem bleiben sie befreundet. 2013 setzt die Kriminalpolizei Cem auf Terroristen in NRW an. Monatelang betet er in Moscheen, lässt sich einen Bart wachsen und dringt in die Salafistenszene im Ruhrgebiet vor. Er liefert Informationen über Hassprediger und mögliche Anschlagspläne, die zu einem umfangreichen Ermittlungsverfahren führen. Am 17. November 2015 lernt Cem den Tunesier Anis Amri kennen, der in den nächsten Monaten viel von Anschlägen spricht. Cem informiert das LKA. Dort ist man alarmiert. Gleichzeitig wiegelt das Bundeskriminalamt (BKA) ab und hält Cem als Quelle für nicht zuverlässig. Im Februar fährt Cem mit Amri nach Berlin in die Fussilet-Moschee. Bis zu seinem Anschlag zehn Monate später geht Amri dort ein- und aus. Cem kehrt zurück ins Ruhrgebiet, wenig später gibt es Streit. Beide sehen sich nie wieder. Im Herbst 2016 zieht das LKA Cem aus der Terrorszene ab. Es gibt Razzien, die Terroristen nennen ihn einen Spion und rufen zu seiner Tötung auf. Cem warnt das LKA noch einmal vor Amri. Doch der ist dort nicht mehr wichtig, zuständig ist inzwischen Berlin. Murat Cems V-Mann-Karriere läuft aus, das LKA schickt ihn samt Familie in ein Zeugenschutzprogramm. Der ehemalige Top-Spitzel ist unglücklich. Kurz nach dem Terroranschlag am 19. Dezember 2016 in Berlin klingelt sein Handy. „Es war Anis Amri“, sagt ein Polizist. 2017 wird durch Zeitungsberichte bekannt, dass ein V-Mann an Amri dran war. Ab 2019 erzählt Cem dem „Spiegel“ in langen Sitzungen seine Geschichte. Demnächst hat er noch andere Zuhörer: Der Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Berliner Terroranschlag beschloss Anfang Mai, die VP01 vorzuladen und als Zeugen zu befragen.

dpa