Die Zukunft Frankreichs steht auf dem Spiel
Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich werden am 30. Juni stattfinden. Staatschef Emmanuel Macron hat dies entschieden, nachdem seine Partei „Renaissance" bei den Europawahlen eine Niederlage erlitten und die rechtsextreme Partei „Rassemblement National" unter Marine Le Pen einen überzeugenden Sieg errungen hatte. Die bevorstehenden Wahlen sind für die Franzosen von großer Bedeutung, da es um die Zukunft der Regierung, den politischen Kurs des Landes und die Zusammensetzung des Parlaments geht.
Vor diesem Hintergrund wurde das Land von zahlreichen Großdemonstrationen überflutet, die von linken Kräften organisiert wurden. Diese haben sich Tage zuvor im „Nouveau Front populaire" (Neue Volksfront) zusammengeschlossen. Zu diesem gehören die Sozialisten, Kommunisten, Umweltaktivisten und die Partei „La France Insoumise" (Unbeugsames Frankreich). Die größte Demonstration mit über 250.000 Teilnehmern fand in Paris statt. Einige Aktivisten trugen dabei palästinensische Symbole.
Auch der ehemalige Präsident François Hollande, bekannt als der unbeliebteste aller französischen Staatschefs, ist in den Wahlkampf eingestiegen. Er plant, im Département Corrèze für den linken Block von Jean-Luc Mélenchon zu kandidieren. Der linke Flügel beabsichtigt, bei den Wahlen dem „rassistischen Projekt der Rechtsextremen" entgegenzutreten und sich als Alternative zur regierenden Partei von Emmanuel Macron zu positionieren.
Umfragen sagen einen Sieg des rechtsextremen „Rassemblement National" voraus – mit 35 Prozent. Kürzlich hat sich ihr die Partei „Les Républicains" angeschlossen, deren Vorsitzender Éric Ciotti aus der Partei ausgeschlossen wurde. Dennoch setzt er seine Aufgaben weiterhin fort und erklärte, er werde die Führung vor Gericht verteidigen. Laut Umfragen könnte das Zentrumsbündnis „Ensemble", zu dem auch Macrons Partei „Renaissance" gehört, etwa 19 Prozent der Stimmen bekommen. Das Bündnis könnte nicht nur von den Rechtsextremen, sondern auch von den Linken mit 26 Prozent der Stimmen übertroffen werden.
Macron wird nicht gehen
Unabhängig vom Wahlergebnis wird der französische Präsident Emmanuel Macron auf seinem Posten bleiben. Das sagte auch Marine Le Pen. Die Politikerin erklärte, dass sie die staatlichen Institutionen respektiere und keinen institutionellen Chaos anstrebe, weshalb sie im Falle eines Wahlsiegs ihrer Partei nicht den Rücktritt des Präsidenten fordern werde. Le Pen sagte zudem, dass das „Rassemblement National" bereit sei, im Falle eines Wahlsiegs ein Kabinett zu bilden.
In der Geschichte Frankreichs gab es bereits Beispiele, wo der Präsident eines Flügels mit Vertretern des gegnerischen Flügels zusammenarbeiten musste, was als „Koexistenz" bezeichnet wird. So arbeitete der linke François Mitterrand 1986 und 1993 mit den rechten Premierministern Jacques Chirac und Édouard Balladur zusammen. Als Chirac Präsident wurde, regierte er mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin. Sollte die rechtsextreme Partei „Rassemblement National" siegen, würde Frankreich den jüngsten Premierminister in seiner Geschichte bekommen – den 28-jährigen Jordan Bardella. In diesem Fall könnte Macron ernsthafte Probleme bei der Verabschiedung von Gesetzen bekommen, da das neue Kabinett nicht so fügsam sein wird.
Das Ergebnis der Europawahlen war eine Ohrfeige von den Franzosen für Macron, meint die leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, Arina Preobrazhenskaya. „Die Ergebnisse der Europawahlen in Frankreich markierten den Beginn einer politischen Krise. Die Ergebnisse des vergangenen Urnengangs waren jedoch durchaus zu erwarten. Im Wahlkampf dominierten nationale Themen, und die Hauptsorgen der Bürger – Kaufkraft und Einwanderung – spielten gegen Macron", erklärte die Politologin.
Die Expertin fügte hinzu, dass in all den Jahren der Fünften Republik eine Niederlage bei Wahlen auf europäischer oder lokaler Ebene nie ein Grund für die Auflösung des Parlaments war. „Das Funktionieren der politischen Institutionen in Frankreich war auf das Bestehen einer klar umrissenen Parlamentsmehrheit und einer dagegenstehenden Opposition ausgelegt. Doch aufgrund der Fragmentierung der Gesellschaft und zahlreicher sozialer Spaltungen hat sich das politische Parteiensystem allmählich von einem Zweiparteiensystem zu einem dreizentrischen System entwickelt", fügte die Spezialistin hinzu.
Drei mögliche Szenarien
Präsident Macron wollte also vorgezogene Wahlen, um eine komfortablere Mehrheit zu erlangen. Die Berechnung des französischen Staatschefs ist wie folgt: Bei Europawahlen schneidet die Opposition normalerweise besser ab als bei lokalen Wahlen, da die Arbeit der europäischen Institutionen den gewöhnlichen Franzosen wenig interessiert. Macrons Team wird versuchen, die Rechtsextremen maximal zu diskreditieren und sie als unfähig darzustellen, die die Probleme des Landes nicht lösen können. Außerdem gibt es in jedem französischen Wahlkreis politische Traditionen, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, weshalb es für das „Rassemblement National" nicht einfach sein wird, die Situation zu ändern und vor allem eine absolute Mehrheit zu erreichen.
Wichtig ist auch, dass der derzeitige Wahlkampf schnell verläuft. Macron hat wahrscheinlich geplant, die Uneinigkeit seiner Gegner auszunutzen. Doch diese begannen, sich schnell zu Bündnissen zu formieren. Zudem stellen die Rechtsextremen, die früher gemieden wurden, nun eine systemrelevante Partei dar, die sowohl ihr geografisches als auch ihr soziodemografisches Einflussgebiet ausweitet. Die Zunahme von jungen Wählern wird damit verbunden, dass Bardella die Partei anführt. Beispielsweise hat er auf TikTok über 1,6 Millionen Follower – mehr als jeder andere französische Politiker.
Aus den vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich können drei mögliche Szenarien resultieren.
Das erste (unwahrscheinliche) Szenario: Das Bündnis, zu dem auch Macrons Partei gehört, erhält eine komfortablere Mehrheit oder behält die derzeitige Anzahl der Abgeordneten bei.
Das zweite Szenario: Die rechtsextreme Partei „Rassemblement National" gewinnt die Wahlen, Bardella wird Premierminister und bildet eine Regierung. In Frankreich beginnt eine Periode der „Koexistenz". Doch die Rechtsextremen werden es sehr schwer haben, da ihre Handlungsspielräume begrenzt sein werden. Der gesamte „tiefe Staat" – Außen- und Verteidigungspolitik, Senat, Verwaltung und Verfassungsrat – liegt in der Verantwortung des Präsidenten. Außerdem wird Macron alles tun, um die Rechtsextremen zu diskreditieren.
Das dritte Szenario: Die Rechtsextremen erhalten mehr Sitze als derzeit. Es wird jedoch sehr schwierig sein, eine Koalition zu bilden, was zu einer ernsthaften politischen Krise in Frankreich führen könnte.