Das rund 9.000 Bewohner zählende wilde Flüchtlingslager, der sogenannte Dschungel von Calais, im September 2016. Kurze Zeit später wurde es geräumt. (dpa)
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Der Fünfjährige ruckelt an seinem ersten Wackelzahn und sagt stolz: „Wenn der rausfällt, dann kommt die Zahnfee und bringt Schokolade.“ Eigentlich keine ungewöhnliche Aussage für ein Kind seines Alters - allerdings wird dieser Junge wohl kaum etwas von der Zahnfee bekommen, denn er lebt mit seiner aus Eritrea geflohenen Familie in einem Flüchtlingslager in Calais.
Dass er die Zahnfee kennt und auf Deutsch von ihr erzählt, liegt daran, dass er zwei Jahre lang in Stuttgart im Kindergarten war. Dann wurde die Aufenthaltserlaubnis der Familie nicht mehr verlängert. Die Eltern sehen nun ihre letzte Chance in einer Überfahrt von Calais nach Großbritannien. „Dort gibt es Arbeit, auch ohne Papiere“, sagt der Vater des Jungen, der seinen Namen nicht nennen will.

Die große Schwester, ein aufgewecktes Mädchen mit strahlenden Augen, zählt die Tage bis zu ihrem achten Geburtstag. Sie ist gerne in die Schule gegangen in Stuttgart. „In der Pause haben wir immer Verstecken gespielt“, erzählt sie, ebenfalls auf Deutsch. Schon drei Mal hat die Familie versucht, auf einem Boot über den Ärmelkanal zu gelangen.

„Ich mochte das nicht, das Wasser war so kalt“, sagt das Mädchen. „Die Luft ist aus dem Boot rausgegangen, und dann waren wir wieder an Land“, erzählt sie so unbedarft, als handle es sich um einen abenteuerlichen Schulausflug.
Ihre Eltern sitzen gemeinsam mit anderen Eritreern um ein Feuer und wärmen sich die Hände. Sie essen billiges Weißbrot mit Schmierkäse und Harissa, einer scharfen Sauce. Ihre Zelte, die sie von einer Hilfsorganisation bekommen haben, sind mit blauen Planen notdürftig gegen Regen geschützt. Der Boden ist schlammig, der Rauch beißt in der Nase, weil jemand Plastik ins Feuer geworfen hat.
In der vergangenen Woche sind bei einer versuchten Überfahrt 27 Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen ein Kind und zwei Jugendliche. Es war das bislang schlimmste Unglück eines Flüchtlingsboots auf dem Ärmelkanal. Im Mittelmeer ertrinken Migranten, weil sie nach Europa wollen. Im Ärmelkanal ertrinken sie, weil sie die EU verlassen wollen.

„Es gibt in Calais derzeit viele Migranten, die Deutsch sprechen, auch Familien, deren Kinder in Deutschland geboren sind", sagt Juliette Delaplace von der Organisation Secours Catholique. „Sie können dort nicht auf Dauer bleiben und wollen deswegen nach Großbritannien“, erklärt sie.
Von den Reaktionen der Politik auf das jüngste Unglück ist Delaplace enttäuscht. „Die Absicherung der Grenze wird weiter verschärft, das treibt die Menschen nur dazu, noch größere Risiken einzugehen“, sagt sie.
Am Wochenende hatten sich Vertreter mehrerer EU-Staaten darauf geeinigt, dass der Ärmelkanal künftig von einem Flugzeug der Grenzschutzagentur Frontex überflogen werden soll. Die Maschine traf am Mittwoch ein. „Es wird nicht nach Lösungen für die Menschen gesucht. Es ist lediglich ein politisches, wahltaktisches Spiel“, meint Delaplace.
Die Lager der Migranten in Calais werden derzeit etwa alle zwei Tage geräumt. „Die Polizei weckt uns und sagt: Haut ab“, berichtet die Mutter der Kinder. Sie hat Angst vor der nächsten Überfahrt, aber sie will es trotzdem wieder versuchen. „Was sollen wir sonst tun?“, sagt sie.

Ihre Kinder spielen unterdessen weiter im Schlamm. Der Junge summt die Melodie von „Alle meine Entchen“ und wiederholt unvermittelt einen Satz, den er in seinem deutschen Kindergarten sicher öfter gehört hat: „Nach dem Spielen wird aber aufgeräumt.“ Mehr zum Thema: Papst verurteilt Missbrauch von Migranten: „Bauern auf Schachbrett“

dpa