Der 10. November ist der erste Jahrestag des sogenannten 44-Tage-Kriegs, wahlweise auch Zweiter Karabachkrieg oder Herbstkrieg genannt.
Wie geht es weiter? Der Mensch hat die Fähigkeit, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Hier und heute. Es ist möglich, einen Schlussstrich unter mehr als ein Jahrhundert armenisch-aserbaidschanischer Konfliktgeschichte zu ziehen, unter 116 Jahre, die von Herabsetzung und Diffamierung, Geschichtsfälschungen, Kulturvernichtung, Terrorismus, ethnischen Säuberungen, Massenmorden, Genoziden und all den anderen logischen Folgen eines als unhinterfragbar hingestellten Hasses geprägt war.
Eine solche Umorientierung ist auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene möglich. Je nachdem, wo sich der Wunsch durchsetzt, die sich ewig perpetuierende Geschichte des gegenseitigen Hasses zu beenden, wird er die entsprechenden Folgen haben. Diese werden nicht im Paradies auf Erden, Friede, Freude und Eierkuchen, Freundschaft der Völker und anderen romantischen Wunschvorstellungen bestehen, aber mit Sicherheit in einer Abnahme von wechselseitiger Kommunikationverweigerung, Hass und Gewalt.
Die armenisch-aserbaidschanische Feindschaft begann relativ spät
Dass es ein friedliches Auskommen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern geben kann, ist kein hohler Traum oder frommer Wunsch, sondern historische Tatsache. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte Schuschas, der am 8. November 2020 nach fast drei Jahrzehnten armenischer Okkupation befreiten Kulturhauptstadt Karabachs, beweist dies.
Dass Armenier und Aserbaidschaner einander nicht immer hassten, kann man etwa in den Werken der aserbaidschanischen Autoren Mir Mohsun Navvab (1833-1913 oder 1918), Firidun bey Kocharli (1863-1920) und Mammed Said Ordubadi (1872-1950) lesen. Letzterer schrieb unter dem Eindruck der Massaker von 1905 und 1906:
„Die beiden Nachbarn, die zuvor freundschaftlich zueinander eingestellt gewesen waren, brachen die Verbindungen zueinander ab und machten sich daran, einander umzubringen. Am Ende explodierte die Bombe, welche schon seit recht langen Zeiten in der Existenz beider Nationen ihren Platz eingenommen hatte, und der ganze Kaukasus ging als Folge der Explosion dieser Bombe in Flammen auf, von einem Ende bis zum anderen.“
„Sobald der russische Staat den kaukasischen Boden beherrschte, wurde allenthalben Frieden gespendet. Keine Nation hatte irgendetwas mit anderen zu tun. Alle kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, wobei jede Nation in ihren eigenen Gebetshäusern ihre eigenen Gebete nach ihren eigenen Regeln verrichtete. Keine Nation griff eine andere an. Im Wesentlichen hatte es meistens Zuneigung und Freundschaft zwischen den Armeniern und den Muslimen gegeben, und sie trieben miteinander Handel. Diese Art der Freundschaftlichkeit zwischen Armeniern und Muslimen gab es in der Periode der Khanate. Khan İbrahim [xәlil] hatte sogar Hurizad, die Tochter Melik Şahnazars, eines der armenischen Meliks [Kleinfürsten – M. R. H.], geheiratet. Diese Hurizad Hanım hat sogar heute noch eine religiöse Stiftung im Hof der großen Moschee.“
Nachwirkungen von 1905 und 1906
Wie kam es dazu, dass diese relativ harmonische, relativ normale Form des Zusammenlebens, die es in der Khanats- und Zarenzeit gegeben hatte, später, konkret 1905 und 1906, ein so abruptes und schreckliches Ende fand und bis heute von tiefverwurzelter Feindschaft zwischen den beiden Kulturnationen überlagert wird?
So, wie es sonst in der Geschichte selten monokausale Antworten gibt, kann man auch diese Frage wohl nur mit dem Hinweis auf Faktoren beantworten, die zusammen und aufeinander einwirkten. Diese beziehen sich auf teilweise sehr verschiedene Bereiche wie Außen- und Geopolitik, Sozial- und Wirtschaftsleben und die Selbstwahrnehmung ethnischer Gruppen.
Der Geist – beziehungsweise Ungeist -, der sich 1905 und 1906 seine Bahn bracht, war zumindest zu einem wichtigen Teil auch einer des territorial exkludierenden Nationalismus. Damit ist hier eine Form des Nationalismus gemeint, der ein bestimmtes Territorium für die eigene, nach ethnischen, sprachlichen und kulturellen Kriterien konstituierte Gruppe beansprucht und allen anderen Gruppen auf diesem Territorium keine oder nur begrenzte Rechte einräumt.
Der 44-Tage-Krieg von 2020 hat den armenischen Separatismus in Aserbaidschan zu einem großen Teil faktisch und auf der materiellen Ebene beendet. Für die Zukunft der armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen ist es aber vielleicht weniger wichtig, wie genau die Regelungen in Bezug auf die in Karabach verbleibenden Armenier, die russischen Friedenstruppen, internationale Garantien für die territoriale Unversehrtheit Aserbaidschans und so weiter sind, also wo genau gegen den Separatismus materielle Schranken gezogen werden. Wenn man die – wenn auch nur in lückenhaften Ausschnitten – oben angedeutete Genese des Konflikts vor seinem geistigen Auge Revue passieren lässt, ist es möglicherweise viel entscheidender, wie der erreichte Status – wie immer er auch sei – auf beiden Seiten beurteilt wird. Nur wenn die politisch maßgeblichen Kreise sowohl in Armenien als auch Aserbaidschan darin übereinkommen, dass es für einen dauerhaften Friedenszustand einer – wie auch immer gearteten, aber zumindest von der Intention her endgültigen – Akzeptanz eines Status quo durch beide Seiten bedarf, im Sinne eines Versprechens, bei sich bietender Gelegenheit nicht wieder eine Revision anzustreben, dann könnte es so etwas wie eine Beilegung des Konflikts geben.
Mit anderen Worten: Frieden kann es nur dann geben, wenn nicht nur der Konflikt selbst im Sinne der stattfindenden gedanklichen, verbalen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aggression und Konfrontation, sondern auch die Ursachen des Konflikts auf Eis gelegt werden. Und diese beginnen mit der Wahrnehmung des anderen.
Das Entscheidende ist die Zukunft
Die Zeit wird zeigen, ob das Ende des 44-Tage-Kriegs 2020 der Beginn einer neuen Epoche war, in welcher der bis zum Ende der 1980er-Jahre „eingefrorene“ Konflikt nach mehreren heißen Phasen (etwa 1991-1994, 2016, 2020) wieder eingefroren wird, um bei künftigen Gelegenheiten wieder aufzutauen, oder ob der Konflikt durch Arbeit an seinen tieferen Ursachen längerfristig entschärft und zivilisiert werden kann (im Sinne einer Übertragung und Reduktion auf zivile und zugleich zivilisierte Formen der Auseinandersetzung).
Dann könnte es auch eine Zeit geben, in der sich Aserbaidschaner und Armenier nur mehr mit ihrer Kultur einen Wettstreit liefern, aber nicht mehr mit ihrem Hass – so wie es im 19. Jahrhundert die aserbaidschanische Poetin Aşık Peri und der armenischstämmige Dichter Mirzecan Mededov in ihrem gemeinsamen Dichterwettstreit taten.