Archivbild. 27.08.1992, Mecklenburg-Vorpommern, Rostock: Ein Mann steht vor einem brennenden Pkw auf einer Straße am zentralen Asylbewerberheim von Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen. (dpa)
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Die Fernsehbilder von damals gingen durch die ganze Welt: Ein wütender Mob, der unter „Deutschland den Deutschen“-Rufen die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) sowie ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen belagerte und mit Brandbeschleunigern bewarf. Menschen, die vor Angst um ihr Leben nach Hilfe riefen. Verzweifelte Eltern. Weinende Kinder. Eine grölende Menge von mehreren Tausend zum Teil betrunkenen Schaulustigen, die die Täter anfeuerten, ihnen applaudierten, die Feuerwehr behinderten oder demonstrativ den Hitlergruß zeigten. Außerdem: Journalisten und eine scheinbar überforderte und notdürftig ausgerüstete Polizei. Vier Nächte lang bemühten sich die schlecht geführten Sicherheitskräfte, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Vier lange Nächte! Nein, die Polizei gab damals wirklich kein gutes Bild ab. Teilweise wurden die Beamten sogar von den Rechtsextremisten gejagt.

Politik nutzte das Pogrom zur Verschärfung des Asylrechts

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern bestätigte später das Versagen von Politik und Polizei. Die Kritik, dass die Situation vorsätzlich eskaliert wurde, um nicht nur die Asylbewerber und Vertragsarbeiter*innen loszuwerden, sondern letztlich bundesweit das Asylrecht zu verschärfen, konnte nie vollständig widerlegt werden. Im Nachgang nutzte die Politik den Vorfall freilich, um die Grundgesetzänderung 1993 zu legitimieren. So beschloss der Bundestag am 26. Mai 1993 die Verschärfung des Asylrechts. „521 Abgeordnete aus den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP sowie der oppositionellen SPD stimmten dafür, 132 dagegen. Damit war die erforderliche Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes erreicht. Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 hatte bis dahin mit der knappen Formel ‚Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‘ ein individuelles Recht auf Schutz festgeschrieben. 1993 wurde er zwar nicht gestrichen, aber um umfangreiche Ausführungen ergänzt, die das Asylrecht erheblich einschränkten“, erklärt der Migrationsforscher Jochen Oltmer. Seitdem habe in aller Regel kaum jemand mehr eine Chance auf Asyl, wer aus „verfolgungsfreien“ Ländern bzw. „sicheren Herkunftsländern“ stamme oder über sogenannte „sichere Drittstaaten“ in die Bundesrepublik einreise, mit denen Deutschland ja praktisch lückenlos umgeben ist.

Organisationen fordern Aufarbeitung

Eine fundamentale und kontinuierliche Aufarbeitung hat es bis heute nicht gegeben. Daher fordern Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Organisation Pro Asyl noch immer eine Aufarbeitung der brutalen Geschehnisse und einen konsequenten Kampf gegen Rechtsextremismus: „Was sich im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen abspielte, war ein Pogrom mit Ansage”, sagt Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung. „Die damalige Landesregierung hat die Situation absichtlich eskalieren lassen und regelrecht zum Pogrom eingeladen.” Trotz des massiven Versagens von Politik und Polizei gebe es bis heute keine richtige Aufarbeitung dieser verheerenden rassistischen Ausschreitungen, so der Leiter der antirassistischen Organisation. „Das Pogrom ist kein lokales Ereignis gewesen. Die rassistische Gewalt hat weit über Rostock-Lichtenhagen hinausgewirkt. Die Aufarbeitung darf nicht auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkt bleiben, sondern muss genauso in Berlin stattfinden”, betont Reinfrank. Mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen verbunden sei auch eine jahrzehntelange Verharmlosung rechter Gewalt. Reinfrank kritisiert, dass die Täter sich damals sicher fühlen konnten und selbst schwerste Straftaten kaum geahndet wurden.

Kontinuität rassistischer Gewalt

Heiko Kauffmann, Mitbegründer und langjähriger Sprecher von Pro Asyl, fordert, dass die Erinnerung an das Pogrom nicht zum symbolischen Ritual der politischen Entlastung verkommen dürfe. Es sei dringend notwendig, dass sich die Gesellschaft ihres eigenen Rassismus und der Gründe dafür bewusst werde. Das sei, so Kauffmann, bis heute leider nicht in der notwendigen Weise geschehen. „Wir haben mit Solingen, NSU, Halle, Hanau und vielen anderen schrecklichen Begebenheiten eine Kontinuität rechter und rassistischer Gewalt – ganz zu schweigen von den täglichen Angriffen und Herabsetzungen von Flüchtlingen.“ Aus Rostock-Lichtenhagen sei zu lernen: „Strukturelle und institutionelle Ungleichheiten verletzen nicht nur die Menschenwürde und die Menschenrechte der betroffenen Flüchtlinge, sondern sie sind auch Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt“. „Denn staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander“, sagt Kauffmann.

Politiker*innen möchten Erinnerungen wach halten

Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) meldete sich zu Wort: „Es ist bis heute erschütternd, dass kaum einer gegen den Mob einschritt“, erklärte sie Anfang der Woche in Berlin. Auch die Grünen sprachen davon, dass die Gefahr von rechts nicht gebannt sei. „Denn auch heute schüren rechtsextreme Kräfte ein Klima der Verrohung und Abwertung von Menschen“, erklärten die Bundestagsfraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann in einer Pressemitteilung am Sonntag. Rechtsmotivierte Gewalttaten nähmen eklatant zu. Eine Aufarbeitung rassistischer Gebilde und Vorfälle sei auch „angesichts von unaufgeklärten Netzwerken und jahrzehntelangen Kontinuitäten in rechtsextremen und rechtsterroristischen Strukturen wichtiger denn je. Auch müssen wir das Vertrauen in Sicherheitsbehörden stärken, indem wir rechtsextreme Umtriebe und Gewalt dort besonders genau in den Blick nehmen und sofort unterbinden“, erklärten die Grünen-Politikerinnen. Von Seiten der Rostocker Stadtverwaltung hieß es: „Das Pogrom ist Teil unserer Stadtgeschichte.“Chris von Wrycz Rekowski (SPD), erster Stellvertreter des Rostocker Oberbürgermeisters, sagte: „Für uns und alle nachfolgenden Generationen bleibt die wichtige Aufgabe, Rassismus und Hetze gegen nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten zu verurteilen.“

Rassismus und Hass: nicht nur ein ostdeutsches Problem

Die Gewaltexzesse von Rostock-Lichtenhagen dürfen nicht als ein ostdeutsches Problem beiseitegeschoben werden. Mölln, Solingen, der NSU-Terror, Thilo Sarrazin, Halle, Hanau oder der Mord an Walter Lübcke zeigen, dass Rassismus und Hass ein gesamtdeutsches Problem sind. Aber es muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland antirassistisch eingestellt ist. Die Lichterketten und Demonstrationen nach den rechtsradikalen Eskalationen der 90er Jahre, die demonstrative Willkommenskultur während der Flüchtlingskrise 2015 oder das derzeitige Engagement für die Schutzsuchenden aus der Ukraine zeigen die freundliche Seite der Deutschen. Es bleibt unsere Pflicht, diese schöne Seite gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zu verteidigen.

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