Als am 6. Oktober 2014 der damalige Co-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, alle Menschen in der Türkei im Alter zwischen sieben und siebzig Jahren aufruft, auf die Straße zu gehen, muss er sich doch der verheerenden Wirkung bewusst gewesen sein?
Kurz zuvor aus der umkämpften Region bei Ayn el-Arab zurückgekehrt – auch Kobani genannt und direkt an der syrisch-türkischen Grenze gelegen –, wo er und seine Begleiter sich laut Augenzeugenbericht mit drei führenden Mitgliedern der verbotenen Terrorgruppe PKK (Arbeiterpartei Kurdistans, überhaupt keine Partei, sondern ein Terrorclan) getroffen hatten, versuchte Demirtaş, Sympathie für den syrischen PKK-Ableger YPG, die sogenannten Volksschutzeinheiten, zu erwecken. Von DAESH („Der Islamische Staat im Irak und der Levante,“ so wie PKK ein komplett irreführender Titel) eingekesselt, wollte die PKK mittels YPG die Stadt zurückerobern – um dies zu erreichen, sollten die Menschen in der Türkei zum Volksaufstand aufgerufen werden; Motto: Unschuldige YPG wird von DAESH bedroht, Massenaufstand in der Türkei wird dies ungeschehen machen. Nicht nur Augenwischerei, sondern auch mit einem ganz anderen Ziel vor Augen: Es ging niemals nur um eine grenznahe Stadt; Ziel der PKK war es immer, die Türkei aufzuteilen und einen eigenen Terrorstaat zu errichten. Kobani sollte das Zugpferd dafür werden, eine Art letzter Aufschrei; der Augenzeugenbericht und weitere hochbrisante Details können auf www.pressreader.com nachgelesen werden, „HDP’s former co-Chair Demirtaş took instructions from PKK during Kobani riots, witness says“, frei übersetzt „Ehemaliger HDP Co-Vorsitzender Demirtaş erhielt Anweisungen der PKK während der Kobani-Ausschreitungen, sagt Zeuge“, vom 9.1.2021, ursprünglich übernommen aus Daily Sabah.
Die Drahtzieher der PKK, versteckt im Kandil-Bergmassiv nahe der irakisch-iranischen Grenze, wussten nur zu genau, dass die PKK an sich im Hinblick auf Massenmobilisierung wenig ausrichten konnte; bildlich gesprochen schwammen den Menschenverachtern ihre Felle schon seit geraumer Zeit davon – man brauchte also Unterstützung. Da sich die HDP bis dato immer noch als Partei des friedlichen Zusammenlebens verkaufte und die PKK hoffte, die breite Bevölkerung würde die Verknüpfung zwischen beiden Gruppierungen nicht erkennen, wurde die HDP als Bürgerkriegs-Botschafter auserkoren.
Die Auswirkungen? Katastrophal.
39 unschuldige Menschen müssen ihr Leben lassen
In der Tat befolgen eine schnell anwachsende Anzahl von Terrorsympathisanten dem HDP-Aufruf und gehen auf die Straße. Schnell werden die Ausschreitungen äußerst gewalttätig und verursachen erhebliche Sachschäden in vielen Städten. Sofort wird klar: Hier geht es nicht um die Verteidigung von Menschenrechten oder gar die Unterstützung friedvollen Zusammenlebens; die traurige Bilanz beweist das genaue Gegenteil und legt die menschenverachtende Grundhaltung der PKK bloß und an diesem schicksalhaften 6. Oktober (sowie den Tagen danach) auch die der HDP-Spitze.
Denn selbst wenn man argumentiert, Häuser können wieder aufgebaut werden und Brandstifter bekommen ihre verdiente Strafe: Menschenleben kann man nicht ersetzen. Und wer den Tod unschuldiger Bürgerinnen und Bürger wissend in Kauf nimmt, ist des Mordes für schuldig zu befinden.
39 Menschen starben, darunter zwei Polizeibeamte. 360 Menschen werden verletzt, unter ihnen 139 Polizeibeamte; die separate Nennung von Zivilisten und Polizei bitte nicht falsch interpretieren – dies ist dazu gedacht, um die barbarische Doppelstrategie der PKK noch einmal in aller Deutlichkeit offenzulegen. Man zielt nicht nur auf den Staat und staatliche Institutionen wie die Polizei ab, man nimmt die gesamte türkische Bevölkerung ins Terrorvisier. Verabscheuungswürdig.
201 Schulen und viele weitere öffentliche Gebäude wurden demoliert oder ganz zerstört. Die Kosten beliefen sich auf über 300 Millionen Türkische Lira.
1600 Untersuchungen wurden eingeleitet, 894 Verdächtige wurden vorläufig, 386 davon längerfristig verhaftet; diese präzisen Daten wurden der Tageszeitung Daily Sabab vom 7. Oktober 2019 entnommen.
Und dann kommt es noch erschütternder.
Vier junge Menschen kaltblütig ermordet
Als in Diyarbakır gerade vier junge Leute Essen an bedürftige Familien ausliefern wollen, stellt sich ihnen ein Terrormob in den Weg und wird zu kaltblütigen Mördern. 41 Verdächtige werden festgenommen, 18 von ihnen später zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch vier unschuldige Jugendliche sind nicht mehr unter uns, vier Familien werden niemals über den Verlust hinwegkommen.
Einer von ihnen hieß Yasin Börü und war gerade einmal sechzehn Jahr jung. Mit Einverständnis seiner Familie durfte man seinen Namen (minderjährig) in der Öffentlichkeit verwenden, um auf die schockierende Brutalität der PKK hinzuweisen. Kaltblütig und feige zugleich – Yasins Mörder kamen maskiert auf die Jugendlichen zu.
Yasin wurde zum tragischen Symbol einer ganzen Generation, die egal wo in der Türkei, aber besonders im Südosten, wo es lange Zeit ein von Terroristen erzeugtes Konfliktpotential gab, nur eines will: Frieden, Ausbildung, moderaten Wohlstand und eine Chance auf eine glückliche Zukunft.
Kindermördern und Terrorbanden, die junge Menschen mit falschen Versprechungen in die Kandil-Berge locken und sie gegen ihre eigenen Familien, Freunde, Lehrer aufhetzen, indem sie sagen, nur ein freies „Kurdistan“ würde ihnen all dies versprechen, muss das Handwerk gelegt werden. Niemand in der Region und in der Türkei will ein neues Land entstehen sehen – warum auch, Menschen mit kurdischen Wurzeln sind genauso in der Türkei zu Hause wie Menschen von der Schwarzmeerküste oder aus Istanbul. Was sie unter einer PKK/YPG und, wie es jetzt scheint, HDP-Herrschaft bekommen würden, wäre nichts weiter als eine Terrormiliz, die sie ausbeuten und ausnützen würde, die sie als Sklaven behandeln würde.
Dies wusste die PKK schon immer, und dies wusste sie natürlich auch am Tag vor den Ausschreitungen, die am 6. Oktober 2014 nach dem Aufruf der HDP-Spitze begannen. Irregeführt vom Glauben an Gerechtigkeit durch Bomben und Morde, hoffte die PKK, nun würde endlich dank eines Volksaufstandes ihr Traum eines neuen Staates in Erfüllung gehen. Manche nennen dies einen Fall für den Psychiater – ich würde sagen, es ist ein Fall für die Justiz und niemanden sonst.
Was macht eigentlich Selahattin Demirtaş sieben Jahre danach?
Wenige Tage nachdem die PKK nahe der Stadt Bingöl mit einer Bombe am Straßenrand zwei Arbeiter ermordete und Beileidsbekundungen aus der ganzen Türkei eintreffen, hat Selahattin Demirtaş, seit 2016 in Haft, nichts Besseres zu tun, als zum Wahlkampf aufzurufen. Er fordert einen starken Linksblock für die Post-AKP-Ära, und seine HDP würde alles daran setzen, Teil solch eines Unterfangens zu werden.
Obwohl er bereits 2012 in den USA verkündete „Wir sehen die PKK nicht als Terrororganisation, es ist eine bewaffnete Bürgergruppe“ kam es erst 2015 zum Ermittlungsverfahren mit Bezug auf die Anstachelung bewaffneter Proteste.
Nun meldete er sich über Bianet zurück (s.o.), eine Medienplattform, die u.a. von schwedischen öffentlichen Geldgebern – Swedish International Development Agency SIDA – unterstützt wird.
Immer noch kein Wort über die Gefährlichkeit der PKK und der YPG, immer noch keine rationale Aufarbeitung seines Mitwirkens am öffentlichen Aufruhr 2014 und auch immer noch keinerlei Interesse, wenn die PKK wieder einmal mit letztem Atem barbarisch eine Bombe hochgehen lässt.
Aber nach wie vor die Hoffnung, die türkische Bevölkerung würde ihm das verzeihen. Vorschlag: Kontakt aus seiner Zelle mit den Müttern der von seiner HDP in die PKK-Berge geköderten Kinder und jungen Menschen aufnehmen. Erst dann könnte ein Lernprozess beginnen, vielleicht.
Denn wie anfangs geschrieben: Wer alle Menschen in der Türkei im Alter zwischen sieben und siebzig Jahren aufruft, auf die Straße zu gehen, muss sich doch der verheerenden Wirkung bewusst gewesen sein?