Im November 2020 unterzeichneten die Präsidenten Aserbaidschans und Russlands sowie der Premierminister Armeniens ein trilaterales Abkommen über einen vollständigen Waffenstillstand und die Einstellung aller Feindseligkeiten im Gebiet des Berg-Karabach-Konflikts, das den armenisch-aserbaidschanischen Krieg in dieser Region des Südkaukasus beendete. Die Ergebnisse des Krieges und dieses Abkommen selbst haben die geopolitische Landschaft in diesem Teil Eurasiens erheblich verändert und die Voraussetzungen für noch bedeutendere tektonische Verschiebungen des Machtgleichgewichts in dieser Region in naher Zukunft geschaffen, welche auch schwerwiegende Folgen für das Schicksal des Kontinents haben werden. Was also ist zu erwarten?
Was ist jetzt ...
Nach Unterzeichnung des Moskauer Abkommens (mit allen politischen Kontexten und Subtexten) vom 10. November des letzten Jahres wurde der Kreml alleiniger oberster Schiedsrichter hinsichtlich der Berg-Karabach-Regelung. Die 1996 eigens zu diesem Zweck gegründete Minsk-Gruppe der OSZE verblasste im Hintergrund oder verlor jeglichen Einfluss auf diesen Prozess. Heute versucht das offizielle Jerewan mit aktiver Unterstützung der höchsten politischen Strukturen der Europäischen Union auf jede erdenkliche Weise, die Bedeutung dieses Gebildes wiederzubeleben und die Verhandlungen mit Aserbaidschan auf ein Format zurückzubringen, das Armenien 30 Jahre die Möglichkeit einer ungestraften Besetzung der angestammten aserbaidschanischen Gebiete einräumte. Natürlich unterstützt der Kreml ein solches Vorhaben selbst nicht, da es ihm automatisch Privilegien und Exklusivität des kürzlich auf Kosten Aserbaidschans erworbenen Status wieder entziehen würde. Folglich ist die weitere Präsenz der OSZE-Minsk-Gruppe im Südkaukasus für den Kreml eigentlich höchst unerwünscht.
Aber andererseits ist die Minsk-Gruppe der OSZE heute eine der wenigen internationalen Institutionen, innerhalb derer die politische Partnerschaft und nicht die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland fortgeführt wird. Dadurch entwickelt sich die Situation in und um Karabach zu einem weiterem Instrument, von dem nicht nur hypothetischer, sondern durchaus realer politischer Druck auf den Kreml von seinen europäischen und transatlantischen Gegnern ausgeht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen würde die Ausgrenzung oder gar Auflösung der Minsk-Gruppe der OSZE objektiv einen weiteren Schritt zur Isolierung Russlands hinsichtlich seiner Kontakte zum Westen markieren. Daher befindet sich der Kreml nun in einer für sich äußerst unangenehmen Situation, da er heute gezwungen ist, zwischen seiner militärisch-politischen Hegemonie im Südkaukasus und der Vertiefung und Ausweitung der Kluft hinsichtlich der politischen Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel zu wählen.
Das Karabach-Abkommen vom 10. November 2020 und der Status der OSZE-Minsk-Gruppe mit ihren „Madrid-Prinzipien“, dem „Kasan-Dokument“ und anderen Beschlüssen schließen sich eigentlich gegenseitig aus. Deshalb ist es den Umständen geschuldet, dass der Kreml nun wie beim Schach unter Zugzwang steht, wobei jeder weitere Zug die Situation nur noch verschlimmert. Vordergründig scheint es nichts Einfacheres zu geben, als im Zusammenschluss mit Aserbaidschan und der Türkei, die (für diejenigen, die sich nicht erinnern) auch Mitglied der Minsk-Gruppe der OSZE sind, den Rückzug aus dieser Struktur anzukündigen, was letztlich automatisch deren Ende gleichkommen würde. In diesem Fall würden sie möglicherweise von einem anderen ständigen Mitglied der Minsk-Gruppe der OSZE – Weißrussland – unterstützt werden, aber eher aus Solidarität und eigenen geopolitischen Erwägungen, die weder mit dem Berg-Karabach-Konflikt noch mit diesem Gebiet zu tun haben. Ebenso will der Kreml nicht minder kategorisch Einfluss und Präsenz der Türkei im Südkaukasus nicht erhöhen und träumt davon, einzige Hegemonialmacht in dieser Region zu bleiben, was jedoch aufgrund des wachsenden türkischen Einflusses und der Ausweitung der türkischen Präsenz, die sogar automatisch noch zunehmen wird, sollte die Minsker OSZE-Gruppe auf diese Weise aufgelöst werden, nicht länger möglich ist. Das Interessanteste dabei jedoch ist, dass die Türkei weder durch Auflösung noch durch Erhalt der Minsk-Gruppe der OSZE etwas verliert, während der Kreml in beiden Fällen etwas verlieren wird.
Was uns in Zukunft erwartet ...
Klar ist, dass der Hauptnutznießer im Falle einer erzwungenen Auflösung der OSZE-Minsk-Gruppe Aserbaidschan sein wird, das, vertreten durch seinen Präsidenten Ilham Aliyev, klar, konkret und kategorisch seine Position zur Nachkriegssituation in und um Karabach vertritt: Der Berg-Karabach-Konflikt ist vollständig erledigt und nunmehr Teil der Geschichte, eine politisch-geographische Definition von Berg-Karabach existiert nunmehr nur noch als Wirtschaftsregion Karabach innerhalb Aserbaidschans. Mit anderen Worten: Die Auflösung der Minsk-Gruppe der OSZE wird die politischen Ergebnisse des jüngsten armenisch-aserbaidschanischen Krieges um Karabach festigen. Die Türkei wird, wie ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Unterzeichnung der Shusha-Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen zu Aserbaidschan am 15. Juni 2021 erklärte, international immer und vollständig die Position Bakus unterstützen, wie auch immer diese sein mag. Russland scheint auch zurückhaltend zu sein, die Minsk-Gruppe der OSZE weiter zu unterstützen, deren weitere formelle Präsenz dem Kreml keine zusätzlichen politischen Vorteile bringen wird, aber erhebliche Verluste verursachen könnte. Mit einem solchen Kartenwerk gibt es in der Geopolitik des Südkaukasus keinen Platz mehr für die Minsk-Gruppe der OSZE. Die Besuche des armenischen Premierministers Nikol Pashinyan und des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev in Moskau sowie des EU-Präsidenten Charles Michel in Jerewan und Baku in der zweiten Juli-Woche zeigen, dass jetzt in den Höhen der Geopolitik um die Zukunft der Minsk-Gruppe der OSZE gerungen wird. Das letzte und diesbezüglich entscheidende Wort indes gehört dem Kreml. Was dieses sein wird, werden die Ergebnisse der Konsultationen zwischen Moskau, Baku und Ankara zeigen, bei denen vor allem die Frage diskutiert wird, was Russland im Südkaukasus genau zurückbehalten wird, wenn diese Ländertroika die Minsk-Gruppe der OSZE torpediert und versenkt, ohne die aber wiederum die Erfüllung der Bedingungen des Abkommens vom 10. November 2020 sowie eine gemeinsame Umsetzung desselben mit Armenien unmöglich sind.