Mit Beginn dieses Monats haben fast alle Kinder weltweit voller Freude und Aufregung mit der Schule begonnen, so auch in Bosnien und Herzegowina. Allerdings nicht flächendeckend im ganzen Land. Denn manche bosnischen Kinder, die in der autonomen Republika Srpska (RS) leben und sich im Schulalter befinden, müssen noch immer einen großen Einsatz leisten, um die Bildung zu erhalten, die sie verdienen.
Bekanntermaßen hat sich nach dem Krieg gemäß dem Dayton-Vertrag in Bosnien und Herzegowina die autonome Republika Srpska konstituiert, welche von serbisch besetzten Behörden verwaltet wird. In den meisten Städten dieser Region stellte die bosnische Bevölkerung die Mehrheit, doch nach dem Krieg zwischen 1992 und 1995 mussten viele bosnische Familien ihre Häuser, ja sogar ihre Heimatstädte verlassen. Zum Beispiel die Stadt Zvornik. Bei der Volkszählung1981 setzte sich die Bevölkerung in dieser Stadt, die in der Region RS liegt, zu 55,25 % aus Bosniaken, 40,71 % aus Serben und 0,141 % aus Kroaten zusammen. Bei der Volkszählung 1991, kurz vor dem Krieg, betrug der Anteil der Bosniaken in Zvornik 59,17 %, der der Serben 37,96 % und jener der Kroaten 0,15 %. Laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2013 setzt sich die gegenwärtige Bevölkerung der Stadt nunmehr zu 33,73 % aus Bosniaken, 65,55 % aus Serben und 0,18 % aus Kroaten zusammen. Diese Zahlen verdeutlichen, wie sich der Bevölkerungsanteil der serbischen und bosnischen Bevölkerung vor und nach dem Krieg verändert hat.
Nicht die Pandemie, sondern die Politik hat der Bildung einen Riegel vorgeschoben
Im Ortsteil Liplje der genannten Stadt Zvornik leben gegenwärtig mehrheitlich Bosniaken, die nach dem Krieg zurückgekehrt sind. Bei der Volkszählung 2013 lebten 477 Bosniaken (99,37 %) dort, heute schätzt man ihre Zahl auf 700. Und als ob das, was diese Bosniaken während des Krieges erlebt haben, nicht genug wäre, etwa, dass sie ihre Häuser verloren und aus dem Nichts ihr Leben wieder aufbauen mussten, wird ihren Kindern heute auch noch der Unterricht in der eigenen Muttersprache verweigert. In ganz Bosnien und Herzegowina hat das Schuljahr am 1. September begonnen, doch nicht für die Kinder aus Liplje. Der diesjährige Präsenzunterricht, den nicht einmal die Pandemie aufhalten konnte, wurde von der Politik für Bosniaken in dieser Region verboten, denn der Unterricht in den Schulen der RS findet auf Serbisch und mit eigenem Lehrinhalt statt. Die im Schulunterricht verwendete Literatur unterscheidet sich zudem von der in Bosnien und Herzegowina. Bosnische Familien in den Städten dieser Region möchten, dass ihre Kinder in ihrer Muttersprache, Bosnisch, unterrichtet werden und nicht auf Serbisch. Dahingegen besteht die serbische Verwaltung seit Jahren darauf, dass der Sprachunterricht der bosnischen Kinder als „Sprache der bosnischen Bevölkerung“ in Schulzeugnissen und anderen Dokumenten niedergeschrieben wird. Diese Praxis ist nichts anderes als eine Marginalisierung, Diskriminierung und Entrechtung kleiner Kinder. Deshalb schickten bosnische Eltern ihre Kinder, die in Liplje zur Schule gehen, nicht dorthin, um gegen diese Praxis zu protestieren. Sie übermittelten ihre Forderung, in der betreffenden Auskunft zum erteilten Sprachunterricht „Bosnisch“ zu schreiben, den Behörden und warten nun ab. Sollten sie keine positive Antwort erhalten, wollen sie ihre Kinder zur nächstgelegenen Schule innerhalb der Föderation Bosnien und Herzegowina schicken.
Der jahrelange Kampf der Bosniaken um Bildung
Das Bildungsproblem in der RS besteht für bosnische Kinder in der Tat schon seit Jahren. Dabei geht es im Rahmen dieser Problematik nicht nur um den Sprachunterricht. In den Schulen in Bosnien und Herzegowina gibt es je nach Region auch spezifische Unterrichtsangebote. Diese sind Angebote im Sprach-, Geschichts-, Geographie- und Religionsunterricht. Eines der wichtigsten Fächer, damit Kinder sich selbst und ihre Heimat kennenlernen, ist Geschichte, insbesondere in einem Land wie Bosnien und Herzegowina, das auf eine komplizierte und schwierige Vergangenheit zurückblickt. In Bosnien und Herzegowina werden diese spezifischen Unterrichtsangebote nach bosnischer, serbischer und kroatischer Nationalität getrennt unterteilt. So bleibt einem bosnischen Kind, dem das Recht auf Bildung in seiner Muttersprache/Landessprache bereits geraubt wird, in der RS nichts anderes übrig, als die Geschichte seiner Heimat von serbischen Offiziellen vorgetragen zu bekommen.
Mutige Region Konjevic polje
Eine weitere Region, die mit den dortigen Bosniaken für das Recht auf Bildung vor Gericht gezogen ist, heißt Konjevic polje. Bereits 2013 schickten bosnische Eltern in dieser Ortschaft aus Protest ihre Kinder nicht in die Schule, weil ihnen das Recht auf Bildung in bosnischer Sprache sowie die spezifischen Unterrichtsangebote verwehrt wurden. Die dortigen bosnischen Kinder mussten fast alle ausschließlich das kyrillische Alphabet im Unterricht verwenden und bekamen den Sprachunterricht von Lehrern erteilt, die nur Serbisch sprachen. Anfang 2014 wurde in Kooperation mit dem bosnischen Bildungsministerium und der Islamischen Union Bosnien und Herzegowinas eine Schule für bosnische Kinder aus Konjevic polje in der nahegelegenen Ortschaft Nova eingerichtet. Da diesen Kindern bis heute kein Recht auf Bildung in der Muttersprache zugestanden wurde, führen sie ihr Schulleben an der Schule in Nova fort. 125 mutige Schüler, die auf engstem Raum und eingeschränkten Möglichkeiten einen Unterricht in ihrer Muttersprache erhalten wollen und nicht aufgeben. Selbst die Lehrer reisen extra aus Sarajevo an, um an dieser Schule zu unterrichten. Einige Schüler müssen sogar das ganze Jahr teils kilometerweit laufen, um die Schule zu erreichen. Sie sind fest entschlossen, dies so lange fortzusetzen, bis die Problematik in ihren eigenen Schulen gelöst wird.
Der offene Krieg mit Bombeneinschlägen ist in Bosnien und Herzegowina zwar vorbei, aber die bosnische Bevölkerung muss nach all dem erlittenen Leid immer noch einen großen Einsatz für ihr Überleben im eigenen Land leisten. Daher sollten sich ausländische Delegationen, die Bosnien und Herzegowina besuchen, nicht nur auf die Hauptstadt Sarajevo beschränken, sondern auch bosnische Familien in der RS besuchen, um die Lebensumstände der dortigen Bosnier vor Ort zu sehen.