Gewalt gegen Flüchtlinge in Hoyerswerda (dpa)
Folgen

Kurze Zeit nach der Wende, zwischen dem 17. und dem 23. September 1991, zeigte sich das hässliche Gesicht von Teilen des wiedervereinigten Deutschlands auf schreckliche Weise. Bei den über Tage andauernden Hetzjagden auf vietnamesische Arbeiter und Flüchtlinge aus verschiedenen Orten der Welt wurden hunderte Migranten brutal angegriffen. Mindestens 32 Menschen wurden verletzt und ihre Wohnungen zerstört. Über 40 bewaffnete Neo-Nazis belagerten, zum Teil unter lautem Beifall hunderter Anwohner, das Flüchtlingswohnheim in der Stadt und bewarfen es mit Steinen sowie Brandsätzen. Am Ende versammelten sich über 500 schaulustige Rassisten, teils aus umliegenden Gemeinden angefahren, vor den Unterkünften und beteiligten sich an den Übergriffen. Sowohl die „Vertragsarbeiter“ als auch die Flüchtlinge mussten unter Polizeischutz mit Bussen aus der Stadt evakuiert werden. Der Mob hatte gesiegt. Daraufhin kürte die rechtsradikale Szene Hoyerswerda – in Anlehnung an den antisemitischen Begriff „judenfrei“ aus der NS-Zeit – als „erste ausländerfreie Stadt“ in Deutschland. Während die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) 1991 das damit entstandene Wort „ausländerfrei“ zum ersten Unwort des Jahres wählte, blieb der pogromartige Überfall kein Einzelfall.

Fatal: Es war erst der Anfang einer langen Serie militant-rassistischer Übergriffe auf Menschen diverser Kulturen. Tödliche Angriffe sollten in nicht allzu ferner Zeit folgen. In Deutschland war die Büchse der Pandora spätestens mit Hoyerswerda geöffnet.

Die blutigen 90er

Die sächsische Kreisstadt im Landkreis Bautzen, nicht allzu weit entfernt von Cottbus und Dresden, war nur Ort des Beginns einer langen Periode xenophober Gewalt in den 1990er-Jahren. Die 1998 gegründete Amadeo Antonio Stiftung, die rechtsextremistische Fälle in Deutschland dokumentiert und nach einem der ersten Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung benannt ist, zählt für 1990 bereits vier rassistisch motivierte Morde. 1991 wurden in Deutschland mindestens zehn Menschen von militanten Rechtsextremisten ermordet. 1992 waren es schon 28 Opfer. Das Jahr 1993 forderte 17 Todesopfer. In den beiden Jahren darauf wurden 13 Opfer beklagt. 1996 töteten Neo-Nazis 17 Menschen. Auch 1997 wurden wieder zwölf Menschen in Deutschland durch Rassisten ermordet. Bis zum Jahr 2000 kamen erneut 15 Menschen durch fremdenfeindliche Taten ums Leben.

Rostock-Lichtenhagen

Kaum ein Jahr nach den Übergriffen in Hoyerswerda, im August 1992, brannten in Rostock-Lichtenhagen Flüchtlingsunterkünfte. Mehr als 3.000 Menschen versammelten sich vor den brennenden Wohnungen und feuerten die Täter bei den pogromartigen Überfällen sogar noch an. Ein Foto aus dieser Zeit bleibt wohl für immer in Erinnerung. Es zeigt den sturzbetrunkenen Harald Ewert, der mit dem Trikot der deutschen Nationalmannschaft bekleidet den Hitlergruß zeigt und dessen schlabberige Jogginghose eingenässt ist. Das Motiv des Fotografen Martin Langer trägt den inoffiziellen Titelder hässliche Deutsche“ und ging damals durch die Weltpresse. Es stand sinnbildlich für das hässliche Gesicht Deutschlands.

Mölln, Solingen, NSU, Hanau

In der Nacht auf den 23. November 1992, nur wenige Wochen nach den rassistischen Gewalttaten gegen Geflüchtete im mecklenburg-vorpommerschen Rostock-Lichtenhagen, verübten erneut Neo-Nazis einen Brandanschlag auf die Unterkünfte zweier türkischer Familien in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Bei dem Terrorakt wurden eine Frau, ein 14-jähriges sowie ein zehnjähriges Kind ermordet. Außerdem waren neun Schwerverletzte zu beklagen. Die Welle rassistischer Morde in Deutschland ebbte nicht ab. Am 29. Mai 1993 mündete die aufgeheizte politische Stimmung, die sich seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung vorrangig gegen „Asylbewerber und Ausländer“ richtete, im rechtsterroristischen Brandanschlag von Solingen. Von den fünf Todesopfern, allesamt Frauen, befanden sich drei noch im Kindesalter. 14 weitere Menschen erlitten zum Teil schwere Verletzungen. In diesen Jahren wurde die Stadt Jena in Thüringen, später auch Chemnitz und Zwickau, zum Mittelpunkt der Radikalisierung der Rechtsterroristen des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dem zwischen 2000 und 2007 mindestens zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge und 43 Mordversuche angelastet werden. Die militante und tödliche Form des Rechtsextremismus besteht fort. 2020 wurden zehn Todesopfer rechtsgesinnter Täter registriert. Neun von ihnen kamen bei dem rassistischen Amoklauf von Hanau ums Leben.

Rechtsextremismus im Aufwind

Das Bundesinnenministerium (BMI) beziffert im aktuellen Verfassungsschutzbericht die Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland auf rund 33.300. Etwa 13.300 werden dem gewaltbereiten Spektrum zugeordnet. Im Vergleich zum Jahr 2019 (21.290) stieg die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten um 5 % auf 22.357 Delikte an.

Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten stieg 2020 um ca. zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr (2020: 1.023; 2019: 925) an. Auch die Gesamtzahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten erhöhte sich um sieben Prozent (2020: 746; 2019: 695). Dagegen sanken die antisemitischen Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund im Jahr 2020 mit 48 Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr mit 56 zur Anzeige gebrachten Taten.

Zudem gab es im vergangenen Jahr in Deutschland statistisch gesehen täglich im Schnitt vier Angriffe auf Flüchtlinge und Asylsuchende. Die Behörden registrierten nach vorläufigen Zahlen 1.606 Angriffe – etwas weniger als 2019 mit 1.620 Fällen. Dabei wurden 201 Menschen verletzt. Weitere 84 Angriffe richteten sich demnach gegen Flüchtlingsunterkünfte.

Zudem nahmen 2020 die Übergriffe auf Muslime und muslimische Einrichtungen gegenüber dem Vorjahr zu. Mindestens 901 islamfeindliche und antimuslimische Straftaten wurden von den Behörden bundesweit registriert. 2019 waren es noch 884 Taten. Fast alle Angriffe, so die Behörden, seien dabei Rechtsextremisten zuzuschreiben. Auch die Zahl von Nazi-Aufmärschen stieg trotz Corona-Beschränkungen und des zeitweisen Lockdowns nach Angaben des Bundesinnenministeriums von 124 auf 133.

Wie Rassismus und Rechtsextremismus begegnet werden kann

30 Jahre sind nach dem Pogrom in Hoyerswerda vergangen. Wohin hat sich die Diskussion bewegt? Gibt es heute nicht Parallelen zu den Flüchtlingsdebatten der 90er? Aus Worten folgten damals Taten. Morde. Terror. Heute sind wir erneut an einem Punkt angelangt, an dem die aufgeheizte Diskussion, zum Teil mit parlamentarischer Unterstützung und Populismus, aus dem Ruder zu laufen droht. Rechtsextremismus ist Gift für die liberalen Gesellschaften. Zudem müssen die Strafverfolgungsbehörden entschiedener gegen die Gewalt gegen Migranten vorgehen. Denn Rassismus ist nicht nur ein Problem von Rechtsextremisten. Linke wie bürgerliche Milieus, aber auch staatliche Behörden sind davor nicht gefeit. Innerhalb der eigenen Reihen sollten zum Beispiel die Sicherheitsbehörden rassistische Straftaten als solche benennen und stärker als bisher ahnden. Was wir aus dem NSU-Desaster gelernt haben sollten, ist, dass Geheimdienste strenger durch das Parlament kontrolliert werden müssen. Überdies muss die Fehlerkultur in der Bürokratie korrigiert werden können. Der interkulturellen Förderung von Mitarbeiter*innen und Diversität kommt eine besondere Rolle zu, da diese für mehr Sensibilität und Empathie sorgen. Präventive Maßnahmen, staatliche und zivilgesellschaftliche Projekte laufen dagegen schon seit Jahrzehnten. Es ist besser, früh anzusetzen, bevor sich Menschen radikalisieren. Die Wirkung dieser Instrumente ist wichtig für ein funktionierendes Gemeinwesen. Antidiskriminierung ist außerdem nicht nur ein Thema für die Welt der Erwachsenen, sondern auch eine Richtschnur für die Curricula in Schulen und Vorschulen.

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