Das Trennen und Recyceln von Abfällen ist für die Türkei zum Schutz der Umwelt und zur Unterstützung der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Während sich die Bevölkerung immer mehr daran gewöhnt, ihren Müll zum Zwecke des Recyclings zu sortieren, floriert ein neuer Berufszweig: der des Müllsammlers.
Die Sammler sind mittlerweile ein alltäglicher Anblick auf belebten Straßen und in Hinterhöfen. Inmitten des hektischen Stadtlebens verdienen sie im Stillen ihren Lebensunterhalt und steigern bei dieser Gelegenheit auch die Recyclingquote, wie „Daily Sabah“ berichtete.
„Zero Waste“-Projekt von First Lady ins Leben gerufen
Schon vor dem Morgengrauen eilen sie zu den Müllcontainern, bevor die Müllmänner der Stadt ihre Touren zur Leerung beginnen. Sie sind auf der Suche nach jedem Stück Abfall, das recycelt werden kann. Mit allen erdenklichen Abfällen von Milchtüten bis zu Plastikflaschen befüllen die Sammler ihre Karren unter Verwendung von ausrangierten großen Säcken. Am Ende des Tages fahren sie zu den Depots in den Vororten der Stadt, um ihre Funde abzuladen. Von dort werden die Abfälle in Fabriken transportiert, wo sie recycelt werden.
Die Sammler dienen als „Mittelsmänner“ in den Bemühungen um eine abfallfreie Produktion in der Türkei. Das „Zero Waste Project“ wurde 2017 von der First Lady Emine Erdoğan initiiert. Damit hat die Türkei im Kampf um Abfallvermeidung ein neues Kapitel aufgeschlagen.
In den letzten fünf Jahren hat das Projekt an Dynamik gewonnen und wird im Rahmen angepasster Bestimmungen weiter ausgebaut. So müssen mittlerweile alle Gebäude über getrennte Behälter für Plastik, Glas, Papier und andere Abfallarten verfügen. Müllsammler leisten in diesem Kontext eine wichtige ergänzende Arbeit. Sie sortieren Abfall, der wahllos in den Containern auf den Straßen entsorgt wird.
Manche laufen täglich 30 Kilometer und mehr ab
Mahmut Alper ist neu in der wachsenden Schar der Müllsammler. Der 25-Jährige kam vor zwei Monaten aus der südöstlichen Provinz Mardin nach Istanbul. Ohne Schulbildung und ohne andere Berufsaussichten begann Alper mit dem Müllsammeln. Mit dem Verdienst sichert er den Lebensunterhalt seiner Familie. Seine Schicht beginnt um 6 Uhr morgens und manchmal arbeitet er bis 20 Uhr abends. „Ich sammle alles, Plastik, Blechdosen, alles, was ich finden kann. Ich habe das Gefühl, dass ich dem Müll neues Leben einhauche“, sagt Alper.
Regenfälle, die für Bewohner der türkischen Metropole sonst ein Ärgernis sind, bedeuten für Alper eine gute Nachricht. „Dann habe ich weniger Konkurrenz“, scherzt er. Für alle Tage, an denen er stundenlang durch die Straßen läuft, hat Alper ein Mittel zur Ablenkung gefunden: Kopfhörer, die er nur selten von seinen Ohren nimmt. Jeden Tag läuft er etwa 30 Kilometer und sammelt dabei durchschnittlich 250 Kilogramm wiederverwertbaren Abfalls ein. Er verdient auf diese Weise 75 Euro (1200 TL) pro Woche. „Ich strenge mich für meine Arbeit an und bettle wenigstens nicht um Geld“, sagt er.
Einkommensquelle auch für Flüchtlinge aus Afghanistan
Auch Mehmed Vali ist von weit angereist. Der 19-jährige Afghane kam zu Fuß in die Türkei und geht heute immer noch zu Fuß – diesmal für seinen Job. Vali hatte sich seinen Landsleuten auf der Suche nach einem besseren Leben im Ausland angeschlossen. Vor ein paar Monaten kam er nach 35 Tagen Fußmarsch in der Türkei an.
Nach einigen Gelegenheitsjobs fand er dank afghanischer Sammlerkollegen seine neue Beschäftigung. Er sagt, er sei stolz darauf, Geld zu verdienen, um es seiner achtköpfigen Familie zu schicken. „Mein Vater arbeitet als Schafhirte in Afghanistan, und ich schicke jede Woche das ganze Geld, das ich hier verdiene“, sagte Vali. Er wohnt in einem von den Besitzern des Depots zur Verfügung gestellten provisorischen Schuppen.
Sammler nach wie vor häufig illegaler Tätigkeit verdächtigt
Volkan Çiltaş betreibt eines der vielen Depots in ganz Istanbul. Hier werden recyclingfähige Abfälle angenommen. Çiltaş stammt aus einer Familie, die sich auf die Müllverwertung spezialisiert hat. Seit der Zeit seines Großvaters, der ebenfalls als Müllsammler gearbeitet hatte, hätten sich die Dinge stark verändert, erklärte er. Früher sei der Müll an einem Ort gesammelt worden, nämlich auf den Mülldeponien. Die Menschen hätten dort gearbeitet, um wiederverwertbare Gegenstände zu finden. Jetzt gebe es überall Müllcontainer.
Çiltaş erklärte, dass die Müllabfuhr Hunderttausenden von Menschen den Lebensunterhalt sichere, die sowohl im Winter als auch im Sommer hart arbeiten würden. Dennoch hätten die Menschen gegenüber Müllsammlern Vorurteile. Diese stünden vielerorts immer noch in Verdacht, einer illegalen Arbeit nachzugehen.
Rechtliche Grauzone
Natürlich wolle niemand so abgestempelt werden. Daher fordert er von den Behörden, allen eine ordnungsgemäße Lizenz für diese Arbeit zu erteilen und das Einkommen, sollte es bestimmte Grenzen überschreiten, zu besteuern. In der Tat ist die Müllabfuhr weitgehend unregistriert, obwohl sie einer großen Zahl von Menschen Einkommen verschafft.
Erhan Han arbeitet seit zwei Jahrzehnten als Müllsammler im Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpaşa. Auch er fordert, dass diese Arbeit nach türkischem Recht als legaler Beruf definiert wird. Der zweifache Familienvater Han kam zu dieser Tätigkeit, als er nach der Wirtschaftskrise 2001 in der Türkei seinen früheren Job als Fabrikarbeiter verlor. Han sichert den Lebensunterhalt für seine Familie und seine bettlägerige Mutter. Er ist stolz darauf, dass er mit dem Müllsammeln Geld verdient und seine Kinder auf die Universität schicken kann. Eigenen Angaben zufolge sammelt Han täglich etwa 2,5 Tonnen Müll.
Ordnungsamt-Mitarbeiter gehen toleranter mit Müllsammlern um
Ahmet Göğümen ist einer der jüngsten Müllsammler. Göğümen musste die Schule abbrechen, um sich um seine sieben Geschwister zu kümmern. Trotz der schwierigen Arbeit, für die er jeden Tag früh aufstehen muss, lässt sich der Junge nicht unterkriegen. „Ich mag diesen Beruf und schäme mich nicht dafür. Das Einzige, was ich vermisse, ist ein langer Schlaf“, sagt Göğümen mit einem Lächeln im Gesicht.
Er arbeitet mehr als 12 Stunden und legt täglich rund 50 Kilometer zurück. Beamte des städtischen Ordnungsamts, die als „Zabıta“ bekannt sind, kontrollieren Verkäufer ohne Lizenz und andere Personen, die auf der Straße arbeiten. Früher hätten die „Zabıtas“ sie vertrieben, aber heute seien sie verständnisvoller. „Wir tun nichts Schlimmes. Wir verschmutzen nicht die Umwelt, im Gegenteil, wir reinigen sie“, erklärt der 14-jährige Göğümen.
Auch Şükrü Kanat ist einer der jungen Sammler. Kanat kam vor einem Monat aus Şanlıurfa nach Istanbul. Hier verdient er eigenen Angaben zufolge nun etwa 44 Euro (700 TL) pro Woche. „Das ist eine sehr schwierige Arbeit, und im Winter habe ich das Gefühl, dass mir die Hände abfrieren“, erzählt er. „Aber manchmal finde ich schöne Dinge im Müll. Heute habe ich ein Paar Schuhe gefunden und werde sie meinem Bruder schenken“, so Kanat stolz.