Es war ein komisches Gefühl für Anna*. „Da standen so viele Menschen“, schildert die 13-Jährige aus dem oberfränkischen Selb ihren Eindruck, als sie das erste Mal mit ihrer Mutter zur Tafel der Malteser ging. Das war im August. Bis dahin hatte Sabine M. stets versucht, die Familie aus eigener Kraft zu versorgen. Aufgrund der Teuerungen gelang das nicht mehr. Immer mehr Familien in Bayern und anderswo geht das so.
Auch sie habe nicht gedacht, dass der Andrang bei der Tafel so groß sei, bestätigt Annas 35 Jahre alte Mutter. Inzwischen haben sich beide an den Anblick gewöhnt. Jeden Samstag gehen sie zur Tafel. „Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen, ist ja fast unmöglich geworden“, sagt Sabine M. Die Trennung vom Vater ihrer heute 13, 11 und vier Jahre alten Kinder vor rund zwei Jahren bildete den Anfang ihrer finanziellen Talfahrt.
Die hauswirtschaftstechnische Helferin lebt von Bürger- und Kindergeld. Wegen ihrer Kinder konnte sie bisher nicht arbeiten gehen: „Ich habe niemanden, der mich unterstützt.“ Annas Papa lebt sechs Stunden entfernt. Sie verzichte aufs Geldverdienen, weil es ihr wichtig sei, dass ihre Kinder gut groß werden, sagt Sabine M. Sie liebe alle drei sehr. Dass sie ihnen dauernd Wünsche versagen muss, schmerze sie.
Auf der Hitliste des Jüngsten stehen Spielzeugautos. Doch die gibt es nur selten. Die 13-jährige Anna liebt Sushi. Längst jedoch hat Anna aufgehört, um etwas zu bitten. Im Gegenteil. Sie ist, schildert Sabine M., so vernünftig, dass sie beim Einkaufen von sich aus immer nach den billigsten Produkten sucht. Wie es ist, notorisch klamm zu sein, fasst der Teenager so zusammen: „Ganz schön scheiße.“
Armut grenzt aus
Längst ist erwiesen, dass Armut krankmachen kann. Und sie grenzt aus. Letzteres erfährt auch Anna. Eine einzige Freundin habe sie. Problematisch ist für Anna, dass sie fast nie mithalten kann. „Sie würde sich gern die Nägel machen lassen“, sagt ihre Mutter. Fast alle Gleichaltrigen gingen ins Nagelstudio. Anna möchte sich ihre Nägel nun selbst machen. Ihre Mutter spart daher auf ein Nagel-Set - als Weihnachtsgeschenk.
Sabine M. wünscht sich mehr soziale Gerechtigkeit - vor allem für Eltern. Dem oft geäußerten Vorwurf, das Bürgergeld sei doch recht üppig, widerspricht sie: Wegen der Inflation reiche es längst nicht mehr. Hoffnung hatte die vierköpfige Familie, dass bald ausreichend Kindergrundsicherung gezahlt würde. Doch vom Entwurf des Gesetzes ist sie enttäuscht. Auch das werde ihre Situation nicht wesentlich verbessern, sagt sie.
Andrang überfordert Tafeln
Die Tafeln kann man durchaus als eine Art Sozial-Barometer betrachten: Nicht nur in Selb, sondern überall stehen die Menschen vor Tafel-Läden Schlange. Immer mehr Tafeln haben einen Aufnahmestopp. Peter Enzi von den Maltesern im Bistum Regensburg, der den Tafel-Laden in Selb leitet, macht die wachsende Armut Sorgen. Vor allem, weil sich nicht alle Armen trauen, Unterstützung zu holen - anders als Familie M.
Oft sind Familien von Armut betroffen. Wobei es einen Unterschied macht, ob sie auf dem Land oder in einer Großstadt leben. „Für viele Münchner Haushalte stellt schon in normalen Zeiten die Finanzierung der laufenden Wohn- und Lebenshaltungskosten eine Herausforderung dar“, heißt es im Münchner Armutsbericht von 2022. Das führt zu äußerst beengten Wohnverhältnissen.
Familiensoziologe: Politik muss Einkommensungleichheit verringern
„Wir kennen hier in München Familien, die zu sechst in einem Zimmer wohnen“, berichtet etwa eine Münchner Schwangerenberaterin. Werden Frauen, die in derart beengten Verhältnissen leben, neuerlich schwanger, sorge das für einen regelrechten Schock. Fast zwangsläufig führt der Weg in die Schwangerschaftskonfliktberatung: „Oft äußern die Frauen bei uns, dass sie sich ein weiteres Kind einfach nicht leisten können.“
Aber auch auf dem Land wird Wohnen immer mehr zum sozialen Thema. „Das Thema kommt mindestens bei jedem zweiten Kontakt vor“, sagt Diana Mameli vom Caritasverband Amberg-Sulzbach. Der Sozialarbeiterin, die in der Straffälligen- und Wohnungslosenhilfe sowie in der Sozialberatung arbeitet, fällt noch etwas anderes auf: „Mindestens jeder Zweite, der zu mir kommt, ist psychisch belastet.“ Das sei früher nicht so gewesen.
Was sonst könnte man tun, damit nicht so viele Kinder in Armut aufwachsen? Eine Antwort darauf hat der Familiensoziologe Josef Brüderl von der Uni München. Wer etwas gegen die „relative“ Kinderarmut tun will, müsste die Einkommensungleichheit reduzieren. „Das würde deutliche Eingriffe in die Einkommensverteilung erfordern“, sagt der Wissenschaftler. Doch bisher habe sich dies niemand in der Politik getraut.