Sebastian Kühn, Blog-Autor von WIRELESS LIFE, Mitbetreiber der Unternehmer-Community CITIZEN CIRCLE und seit 10 Jahren als digitaler Nomade unterwegs (Others)
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Sie wollen frei sein, ortsunabhängig arbeiten und dabei womöglich reisen: digitale Nomaden. Auch viele Deutsche sind zunehmend von diesem Lifestyle fasziniert – und krempeln dafür ihr gesamtes Leben um. Welche Hintergründe bewegen diese Menschen – und womit verdienen sie von unterwegs ihr Geld?

Der Autor und digital selbstständige Unternehmer Sebastian Kühn ist einer von ihnen. Seit über 10 Jahren tingelt er um die Welt. Mit TRT Deutsch sprach er darüber, wie ihm der Start in die digitale Selbstständigkeit gelungen ist, wie sein nomadisches Leben heute aussieht und was „Freiheit“ für ihn persönlich bedeutet.

Sebastian, du bist ein bekannter „digitaler Nomade“ aus der deutschen Aussteiger-Szene. Was macht einen digitalen Nomaden aus?

Sebastian Kühn: Die digitalen Nomaden, die ich in den letzten Jahren getroffen habe, lassen sich nur schwer über einen Kamm scheren, weil sie vom Alter, Familienstand, ihrem beruflichen Hintergrund und ihrer Persönlichkeit her alle ganz unterschiedlich sind. Ihre Gemeinsamkeit ist vor allem mentaler Natur: Dahinter stehen der Wunsch und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, danach, mehr Verantwortung zu übernehmen für die eigene Arbeit, den Wohnort und mehr eigene Entscheidungen treffen zu können.

„Digitale Nomaden wollen aus der Beständigkeit ausbrechen.“

Das bedingt auch die Freiheit, selbstständig zu sein. Fest angestellte digitale Nomaden sind weiterhin eher die Ausnahme. Die Selbstständigkeit, das Reisen und der Wunsch, immer wieder den Wohnort zu wechseln, würde ich charakteristisch nennen. Viele digitale Nomaden, die ich kennengelernt habe, verspürten den Wunsch, aus der Beständigkeit auszubrechen, aus dem Leben, das unsere Eltern und Großeltern schon geführt haben, und Dinge anders zu machen und sich auf die Unsicherheiten, die damit einhergehen, einzulassen.

Wie lange lebst und arbeitest du schon auf Reisen und wie gestaltest du dein nomadisches Leben heute konkret?

Ich bin inzwischen seit über 10 Jahren nomadisch unterwegs – mal länger, mal kürzer an einem Ort. Über die Jahre hat es sich so eingependelt, dass ich im Winter meist an einem festen Ort in Asien bin. So habe ich beispielsweise viel Zeit in China, Singapur, Thailand und Malaysia verbracht. Im Sommer bin ich überwiegend in Europa und Deutschland, um Freunde und Familie zu besuchen, aber auch, um Veranstaltungen zu organisieren.

Wie kam es zu deinem nomadischen Lebensstil?

Ich habe ganz klassisch Abitur gemacht und eine Ausbildung im Einzelhandel. Als ich mit 23 Jahren das erste Mal ins Ausland ging – ein Jahr Work & Travel in Australien –, packte mich das Thema Reisen: in anderen Ländern zuhause zu sein und unterwegs neue Menschen zu treffen. Trotzdem hatte ich noch den Sicherheitsgedanken, was dazu führte, dass ich zurück nach Deutschland ging und in Berlin BWL und International Business studierte. Ich hatte auch verschiedene Jobs im Vertrieb und Marketing, ganz klassisch in Festanstellung.

Wie ist dir der Berufswechsel gelungen?

Mit Ende 20 ging ich mit meiner damaligen Freundin nach Shanghai. Was ursprünglich nur für ein halbes Jahr gedacht war, bevor der „Ernst des Lebens“ beginnen sollte, stellte sich als schleichender Übergang in die Selbstständigkeit heraus. Nach sechs oder sieben Festanstellungen fing ich 2012 an, als freier Übersetzer zu arbeiten und arbeitete mich schließlich in das Thema Social-Media-Marketing ein. Nach einigen Monaten hatte ich Kunden und verdiente Geld damit. Dies war keine bewusste Entscheidung, eher ein Prozess, in dessen Verlauf ich immer stärker in diese digitalen Themen vorgedrungen bin.

Womit verdienst du heute von unterwegs dein Geld?

Obwohl ich mit Übersetzung, also mit klassischem Freelancing, in die Selbstständigkeit gestartet bin, mache ich heute etwas komplett Anderes. 2014 startete ich meine Website WIRELESS LIFE, um darüber zu schreiben, wie ich online Geld verdiene. Das war damals ein guter Zeitpunkt. Der Blog kam gut an, viele Menschen interessierten sich dafür. Ich begann, Ratgeberbücher zu verkaufen und habe online und offline Workshops und sogenannte Workations für kleine Gruppen von Menschen überall auf der Welt organisiert.

Aktuell ist der Citizen Circle mein Haupteinkommen: eine Gemeinschaft von Selbstständigen, die alle digital arbeiten. Für die aktuell 500 Mitglieder bieten wir Inhalte zum autodidaktischen Lernen, Veranstaltungen und die Möglichkeit, sich vor Ort und über den Online-Bereich zu vernetzen.

An wen richten sich die Workations und der Citizen Circle?

An ortsunabhängig Selbstständige. Der Begriff „digitale Nomaden“ ist vielfach mit Klischees belegt. Das sind teils Familien und Menschen mit festem Wohnsitz in Deutschland, die im Winter einige Monate auf die Kanaren fliegen – alle mit dem Wunsch, ortsunabhängig zu arbeiten – ob von zuhause aus oder aus anderen Ländern.

Mit dem Citizen Circle bedienen wir auch das Bedürfnis derer, die nicht klassisch ins Büro gehen und dennoch das Gefühl von Zugehörigkeit und den Austausch mit Gleichgesinnten brauchen.

In den Workations besprechen wir, was sich Neues im Online-Marketing tut und wie ich mein digitales Geschäftsmodell verbessern kann. Darüber hinaus geht es auch stark um Persönlichkeitsentwicklung, d.h. damit, sich mit der eigenen Person in einem neuen Umfeld außerhalb vom gewohnten Umfeld auseinanderzusetzen.

Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf deine digitale Selbstständigkeit?

Die Coronakrise war definitiv ein großes Risiko – wie bei fast allen Selbstständigen. Viele der digitalen Nomaden sind in der Reisebranche tätig oder verdienen als Trainer, Berater und Coachs ihr Geld. Sie bekamen als Folge der Pandemie keine Aufträge mehr vor Ort. Deshalb kündigten einige unserer Mitglieder. Zudem konnten wir eine Zeit lang keine Veranstaltungen planen.

Hat sich die Krise auch auf deine Reisefreiheit ausgewirkt?

Anfangs war ich in Malaysia, wo es für ein halbes Jahr einen harten Lockdown gab. Ich konnte meine Arbeit aber wie gewohnt am Laptop fortführen und war davon kaum berührt. Erst als ich im Sommer in Deutschland war, merkte ich, wie ernst die Lage weltweit ist. Auch im Folgewinter in Portugal bekam ich wieder wenig von den Nachrichten und Regularien mit und konnte mich persönlich gut arrangieren. Mein Business war allerdings schon stark betroffen.

Welches Vorgehen macht Sinn, wenn man digital ortsunabhängig leben will, womöglich im Ausland?

Es gibt da keine Faustregel, ob man nach der 183-Tage-Regel geht oder sich doch besser gleich aus Deutschland abmeldet. Zu jedem Menschen passt ein anderes Modell. Jeder hat ein anderes Bedürfnis nach Sicherheit. Tendenziell rate ich, sich weniger Gedanken zu machen. Die meisten Menschen machen sich viel zu viele Gedanken um steuerliche Konsequenzen und wie sie ihr Geld verdienen sollen. Bei mir und vielen anderen Nomaden war es so: Wir haben uns einfach darauf eingelassen und es ausprobiert.

Man kann z.B. zuerst ein Sabbatical einlegen und sich ein halbes Jahr Zeit geben und verschiedene Dinge ausprobieren, um digital sein Geld zu verdienen. Das halte ich für die beste Möglichkeit. Wer dann merkt, dass dieser Lebensstil für ihn funktioniert und sich mit den eigenen Kompetenzen Geld verdienen lässt, der kann sich dann um bürokratische Dinge wie die 183-Tage-Regel kümmern. Es ist besser, nicht alles vorauszuplanen, sondern zuerst herauszufinden, ob der Lifestyle zu einem passt.

Zudem sollte man im Hinterkopf behalten: Diese Entscheidungen können immer rückgängig gemacht werden. Die Wiederanmeldung im Meldeamt in Deutschland kann man in fünf Minuten erledigen. Man kann es als Experiment betrachten.

Was hast du unterwegs in der Freiheit über dich selbst gelernt?

Zum einen, dass ich nicht in Extremen leben will, also weder in dem sicheren Umfeld, das mir meine Eltern vorgelebt haben, noch im anderen Extrem, das darin besteht, total ungebunden und nomadisch um die Welt zu ziehen und aus dem Koffer zu leben. Es geht für mich darum, mich auszuprobieren und den richtigen Mittelweg zu finden, der ganz persönlich zu meinem eigenen Leben passt. Kein Weg, den mir jemand Anderes vorlebt. Ich sehe mich selbst weiterhin auf der Reise, die wir alle im Leben antreten: genau diesen Weg zu finden.

Ich habe auch viel darüber nachgedacht, was Arbeit für mich bedeutet und wie wir Arbeit in der Gesellschaft definieren. Ich befinde mich da gedanklich sehr weit von dem Konzept entfernt, demzufolge Arbeit ein Ort sein soll, an den man hingeht, acht Stunden arbeitet und dafür eine bestimmte Menge an Euros bekommt. Ich halte dies persönlich für eine furchtbare Einstellung zur Arbeit. Mein heutiger Anspruch an Arbeit ist, dass sie mich erfüllt, mir Freude bringt, Sinn stiftet und auch für Andere sinnvoll ist. Geld ist am Ende eine Belohnung, darf jedoch nicht die Motivation sein. Die Arbeit soll sich nach dem Leben richten – nicht umgekehrt.

Ein spannender Ansatz. Welche Vor- und Nachteile siehst du nach 10 Jahren ortsungebundener, digitaler Tätigkeit?

Eines vorweg: Mein Fazit über die Vorteile könnte manch einer als Nachteile sehen. Für mich persönlich ist selbstständiges Arbeiten schön, weil es mir das Gefühl gibt, dass ich zum größten Teil selbst über meine Zeit bestimmen kann. Auch darüber, wie viel oder wenig ich verdienen möchte und wo ich morgen gerne sein möchte. Das ist für mich eine große Freiheit.

Ich entscheide frei über Zeit, Ort und im Grunde auch über mein Einkommen. Ich kann 18 Stunden am Tag arbeiten oder zwei. Ich kann mir überlegen, mit welchem Geschäftsmodell ich wie viel verdienen möchte. Diese Optionen schaffen das Gefühl von Selbstwirksamkeit, d.h. ich habe das Gefühl, ich kann mehr bewusste Entscheidungen treffen in meinem Leben.

Ich mag auch die Unsicherheit, mein Einkommen schwankt und ist nicht so stabil wie im Angestelltenverhältnis. Es ist befreiend, nicht zu wissen, wo ich in einem halben Jahr sein werde und dass immer wieder Dinge passieren, die mich aus der Bahn werfen. Mit dieser Unbeständigkeit fühle ich mich sehr wohl. Das ist jedoch nicht bei allen Menschen so.

Und die Nachteile?

Alles, was bürokratischer Natur ist, strengt an: Steuern, Versicherungen, Wohnsitzanmeldung, Anträge für Visa und die Reiseplanung. Oft gibt es keine verlässlichen Informationen, weil es rechtliche Grauzonen gibt. Das ist für mich der Preis für diese Freiheit, dass ich häufig neues Terrain betreten und mich regelmäßig informieren muss.

Ein weiterer Preis ist: Wenn ich viele bewusste Entscheidungen in meinem Leben treffe, trage ich auch immer die volle Verantwortung für die Konsequenzen und kann mich nicht hinter „einem blöden Chef, der Partnerin oder Frau Merkel“ verstecken. Ich bin mir voll bewusst: Für alles, was gut oder schlecht läuft, bin ich selbst verantwortlich.

Dazu passt gut das Zitat des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, der sagte: „Frei sein bedeutet auch, „zum frei sein verurteilt“ zu sein.“ Es kann also durchaus auch eine Last sein, die Unbeständigkeit und die Konsequenzen des eigenen Handelns tragen zu müssen.

Mit Blick auf das gesellschaftliche Ganze: Viele stellen jetzt auf Homeoffice oder gar mobiles Arbeiten um. Werden in Zukunft immer mehr Deutsche zu digitalen Nomaden?

Meine persönliche Einschätzung lautet: Nein. Auch wenn das digitale, ortsunabhängige Arbeiten und Leben auf Reisen eine gesellschaftliche und mentale Entwicklung der heutigen Zeit ist, die zunehmend in Deutschland attraktiv wird, glaube ich, dass digitale Nomaden doch eher eine Randgruppe der Gesellschaft bleiben werden und nur ein Bruchteil der Deutschen den Wohnsitz tatsächlich abmeldet und nomadisch unterwegs sein wird.

In den letzten Jahren haben wir jedoch gesehen, wie gut und gerne sich viele Deutsche damit arrangiert haben, von Zuhause aus zu arbeiten und digitale Medien zu nutzen. Das wird mit Sicherheit so bleiben. Angestelltenverhältnisse werden zukünftig flexibler gestaltet, etwa als Mischmodelle wie „2 Tage Büro, 3 Tage Homeoffice“. Auch Coworking-Arbeitsplätze gewinnen an Bedeutung, selbst wenn die Pandemie weiter abflacht.

Und für die, die bereits digital nomadisch leben: Ist das eine Permanentlösung?

Viele machen das für ein bis zwei Jahre. Früher war es das Austauschjahr in den USA oder Work & Travel in Australien. Heute heißt es eben „Wir machen ein digitales Nomadenjahr, reisen um die Welt und probieren die Selbstständigkeit aus.“

Ich schätze, dass mehr als die Hälfte der Nomaden irgendwann merkt, dass das Abenteuer zwar schön war, man sich jedoch wieder ein festes Zuhause und ein sicheres Einkommen wie im alten Leben wünscht. Die wenigsten sind wirklich zehn Jahre oder länger unterwegs.

Grundsätzlich ist jedoch nicht nur ein Modell denkbar. Letztlich geht es genau darum, die eigene Mitte für sich zu finden. Das erfordert beständiges Austarieren.

Also ist der Lebensstil nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Arbeit, sondern auch mit der Persönlichkeit und Erwartungshaltung ans Leben?

Definitiv. Für die meisten digitalen Nomaden steht zu Beginn die Frage: „Wie möchte ich anders arbeiten?“ Aus Unzufriedenheit mit der aktuellen Arbeitssituation oder dem aktiven Wunsch nach Veränderung machen sich viele selbstständig und probieren sich aus. Das führt zwangsläufig dazu, sich stärker mit der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen. Die Arbeit ist dann ein Spielplatz, wo ich vieles ausprobiere.

Letztlich geht es darum, was ich vom Leben will, wie ich meine Beziehungen führen möchte, wo ich mit wem leben will und was Arbeit für mich bedeutet. Diese Themen und auch die Bedürfnisse im Leben verändern sich. Man muss flexibel mit seinem Leben darauf reagieren können.

Vielen Dank für das interessante Gespräch!