Gastbeitrag von Yasin Baş
Die Migration von türkischstämmigen Menschen nach Deutschland vor 60 Jahren markiert einen wichtigen Teil der gemeinsamen deutsch-türkischen Geschichte. Diese Geschichte wurde von vielen einzelnen Menschen aus Anatolien geschrieben. Einer von ihnen war Mehmet Baş. Geboren am 20. Juni 1957 in der Schwarzmeerprovinz Mesudiye bei Ordu, kam er 1972 mit gerade einmal 14 Jahren nach Deutschland. Sein Großvater Recep und dessen Sohn, sein Vater Kadir, waren von Ordu-Mesudiye in die Nachbarprovinz Samsun-Terme ausgewandert, da sie in Mesudiye keine Existenz mehr sahen. Nach der Binnenmigration kam also die Migration ins Ausland. Mehmet Baş, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, kam durch die Initiative eines nahen Verwandten, Ali Çığır, der in Duisburg wohnte, nach Deutschland. Als Mehmet Baş wenige Tage später von Duisburg nach Osnabrück zog, fand er im November 1972 eine Anstellung in einem Schweiß- und Metallbetrieb namens Steinburger. Die Schweißarbeiten, der Staub und die Funken setzten dem Jugendlichen dermaßen zu, dass er nachts kaum schlafen konnte. Seine Augen brannten und schmerzten bis in die Morgenstunden. Mehmet Baş erzählte oft, wie er seine Augen mit Kartoffelscheiben verband, um die Schmerzen zu lindern. Im Juli 1973 bekam er eine Stelle als Maschinenschlosser bei der Gummifabrik „Westland“ in Melle-Westerhausen im Landkreis Osnabrück.
Freitagsgebete in der Kirche
Mehmet Baş war erst 17 Jahre alt, als er im September 1974 in den Sommerurlaub in die Türkei fuhr. Dieser Urlaub sollte seinem Leben eine neue Wendung geben: Er heiratete die junge Fatma aus Ordu, die ihm am 6. Juni 1975 nach Deutschland folgte. Sie bezogen eine Fabrikwohnung mit zwei Zimmern in Melle-Westerhausen. Die Tage vergingen wie im Flug. Mehmet Baş wurde Mitglied in einem Boxclub. Zum Training sowie zu den Wettkämpfen fuhr er mal mit dem Fahrrad und mal mit dem Zug. Manchmal nahm ihn auch der in Osnabrück lebende deutsche Trainer mit seinem Auto mit.
Wenn Mehmet Baş Spätschicht hatte, fuhr er mit dem Zug zum Freitagsgebet nach Osnabrück. In den Jahren 1975/76 wurde das Freitagsgebet in einer Kirche in Osnabrück verrichtet, da es in der ganzen Region noch keine Moscheen gab. Damals stellte die Stadtverwaltung Osnabrück für diesen Tag die Räumlichkeiten einer Kirche für die Muslime im Umland zur Verfügung.
1976 erblickte Yasemin, das erste Kind des Ehepaars Mehmet und Fatma Baş, das Licht der Welt. Weil die Eltern beide arbeiten mussten, wurde Yasemin ihrer Großmutter in Samsun-Terme anvertraut. Viele Arbeitsmigranten nahmen in jenen Jahren diese schmerzvolle Trennung in Kauf und überließen ihre Kinder Verwandten in der Türkei. Dies führte nicht selten zu traumatischen Wunden, die nur schwer verheilten. Die türkischen Arbeitsmigranten hatten ja eigentlich geplant, lediglich eine bestimmte Zeit in der Ferne Geld zu verdienen und dann wieder in die Heimat zurückzukehren. Dieser Plan erwies sich allerdings bei Hunderttausenden als Trugschluss.
1978 trat Mehmet Baş eine Stelle als Zylinderfacharbeiter bei der Firma „Schomäcker“ an, die LKW-Federn herstellte. Hier war er 19 Jahre lang tätig. Im selben Jahr wurde das zweite Kind der Familie, Abdulkadir, geboren. Da beide Elternteile weiterhin berufstätig waren, wurde auch Abdulkadir zur Großmutter gegeben. 1982 folgte dann der zweite Sohn, der anders als seine Geschwister in Deutschland aufwuchs. Mehmet Baş versorgte nicht nur seine eigene Familie in Deutschland, sondern auch die Familienangehörigen sowie die gesamte nahe und entfernte Verwandtschaft in der Türkei. Auch dies war typisch für viele damalige Arbeitsmigranten.
Mehmet Baş legte großen Wert auf Erziehung und Bildung
Mehmet Baş achtete besonders auf die Erziehung und Bildung seiner Kinder. Er war stolz darauf, dass alle drei seiner Sprösslinge die Universität mit Bestnoten abschlossen. Er betonte oft, wie wichtig das Erlernen der Muttersprache neben der deutschen Sprache sei. Aus diesem Grund kaufte er seinem jüngsten Sohn nicht nur deutsche, sondern auch türkische Kinderbücher sowie türkische Hörspiel- und Videokassetten, die bei der Bildung seiner Identität eine wichtige Rolle spielten. Integration war Mehmet Baş wichtig. Assimilation lehnte er ab. Außerdem legte er großen Wert auf religiöse Erziehung. Zum Einschlafen erzählte er spannende Geschichten aus dem Leben des Propheten Muhammed (s.a.v.) und seiner Gefährten Ali, Hamza, Abu Bakr, Osman oder Ömer.
Ein Leben für die deutsch-türkische Partnerschaft und die türkisch-islamische Union
Da Mehmet Baş kulturell und sozial sehr aktiv war, bekam die Familie gefühlt jede Woche Besuch von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Politikern, Vereinsvorständen, Botschaftsräten und Attachés. Dichter, Musiker und Künstler aus der Türkei und anderen Ländern gehörten zu den Gästen, die oftmals bei ihnen übernachteten. Neben der Fabrikarbeit engagierte sich Mehmet Baş in Moscheevereinen, sozialen und kulturellen Organisationen.
Mehmet Baş gehörte 1978 zu den Gründern der türkisch-islamischen Moschee in Melle. Er war viele Jahre im Vorstand des Gebetshauses. Während seiner Amtszeit als Vorsitzender übertrug er die Moschee an die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITIB). Als Gründungsmitglied des „Deutsch-Türkischen Arbeitskreises“ und des Initiativausschusses der Stadt Melle leistete er ab 1982 wichtige Dienste für die türkisch-deutsche Freundschaft in Melle und Umgebung. Er gehörte zu den Initiatoren des Partnerschaftsvertrags zwischen der Stadt Melle und der türkischen Stadt Niğde. Zudem war er als Journalist viele Jahre für verschiedene türkische Tageszeitungen tätig. 1987 gehörte er zu den Gründern der „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“ (ATIB). Er war lange Jahre Landesvorsitzender für Norddeutschland. Überdies war er stellvertretender Vorsitzender des Koordinationsrates der türkischen Organisationen, der 89 türkische Vereine im Konsulatsbezirk Hannover und Bremen angehörten.
Im Dezember 2004 begann Mehmet Baş als Moderator und Werbeabteilungsleiter für den türkischen TV-Sender „Kanal Avrupa“ in Duisburg zu arbeiten. Das Schicksal hatte ihn erneut nach Duisburg geführt, in die Stadt, die 1972 seine erste Anlaufstelle in Deutschland gewesen war. Am 3. März 2021 verstarb er nach einem Herzinfarkt auf der Arbeit und wurde am 6. März in Samsun-Terme neben seinen Eltern und Großeltern beigesetzt.
Über das Leben von Mehmet Baş ist aktuell ein Buch mit dem Titel „Güler yüzlü adam” [„Der Mann mit der freundlichen Miene”] erschienen. In dem Werk kommen Familienangehörige, Freunde, Kollegen und Wegbegleiter des Journalisten zu Wort. Das Buch ist ab sofort im Handel erhältlich.