Recep Tayyip Erdoğan / Photo: AA (AA)
Folgen

Trotz einer Reihe von Militärinterventionen, die das politische Leben 1960, 1971, 1980, 1997 und 2007 unterbrachen, konnte Türkiye seit dem Übergang des Landes zu einem Mehrparteiensystem im Jahr 1950 weitgehend demokratische Wahlen abhalten.

Von der Gründung der Republik im Jahr 1923 bis 1950 wurde Türkiye von einer Partei geführt, die vom 1938 verstorbenen Gründervater Mustafa Kemal Atatürk mitbegründet worden war .

Wahlen in dieser Zeit hatten weitgehend zeremoniellen Charakter, da nur unangefochtene CHP-Kandidaten eine Chance auf einen Sitz im türkischen Parlament hatten.

Das änderte sich jedoch mit den Wahlen von 1950, bei denen eine Reihe von Parteien ihre Kandidaten in einer demokratischen Abstimmung zur Wahl stellen konnten und die Demokratische Partei, eine konservative politische Partei, mit großer Mehrheit an die Macht kam.

Seitdem dominieren konservative Parteien die türkische Politik, während es der CHP, einer eher linksgerichteten Partei, nicht gelang, die meisten Stimmen (mit Ausnahme einiger weniger Wahlen) auf sich zu vereinen und letztlich wichtigste Oppositionspartei im Parlament blieb.

Im Mai wird das Land einen weiteren entscheidenden Wahlgang in seiner Geschichte erleben.

So haben sich die Wahlen in Türkiye in den letzten hundert Jahren entwickelt:

Das osmanische Erbe

Die Geschichte der Wahlen in Türkiye hat ihre Wurzeln im Osmanischen Reich, dem Vorgängerstaat der türkischen Republik, der im 19. Jahrhundert einen Großteil des Nahen Ostens und bedeutende Gebiete auf dem Balkan kontrollierte. Im späten 19. Jahrhundert befand sich das Reich im Niedergang, und osmanische Staatsmänner waren der Ansicht, nur eine Reform der politischen Struktur des multiethnischen und multireligiösen Reiches könne dessen Zerfall verhindern.

Als Ergebnis des eingeleiteten osmanischen Reformprogramms wurde das Reich 1876 zu einer konstitutionellen Monarchie mit einem Parlament und Wahlen transformiert. Die ersten Wahlen fanden 1876 bzw. 1877 statt, als das Parlament ein Wahlgesetz verabschiedete, das auch in der Zeit der Republik bis 1943 in Kraft blieb.

Dieses Parlament konnte jedoch aus verschiedenen Gründen nicht viel Wirkung entfalten, und der osmanische Sultan Abdulhamid II. suspendierte es bis 1908, als die zweite Verfassungsära begann, nachdem das Komitee für Union und Fortschritt (CUP), der politische Flügel der Jungtürken, und seine militärischen Verbündeten an die Macht gekommen waren.

Nach den Wahlen von 1908 wurde das osmanische Parlament in Istanbul wiedereröffnet, da die Kandidaten der CUP die meisten Wahlen im ganzen Reich gewannen. Obwohl die CUP vorgab, eine reformistische Gruppierung zu sein, griff sie zu aggressiven Unterdrückungstaktiken, um ihre politischen Gegner kleinzuhalten. Die CUP manipulierte sogar Wahlen, indem sie die Staatsmacht und andere Mittel einsetzte, um am Ende den eigenen Kandidaten zur Wahl zu verhelfen und eine absolute Mehrheit im Parlament zu erlangen.

Nach 1913 etablierte die CUP eine Ein-Parteien-Herrschaft und regierte das Land bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Wahlen in Kriegszeiten

Am Ende des Ersten Weltkriegs besetzten die alliierten Mächte einen Großteil der osmanischen Gebiete. Im Jahr 1919 führte Mustafa Kemal den türkischen Unabhängigkeitskrieg gegen die britisch-französischen Besatzungsmächte an. Obwohl die Invasionsmächte stolz darauf waren, selbst demokratisch gewählte Regierungen zu haben, lösten sie 1920 das osmanische Parlament auf und verbannten die meisten seiner Abgeordneten ins Exil.

Im selben Jahr riefen Atatürk und seine Anhänger ein neues Parlament in Ankara, einer nicht besetzten Stadt, ins Leben und drängten darauf, dass in den nicht besetzten Gebieten Wahlen für die nunmehr in Ankara tagende sogenannte Versammlung abgehalten werden sollten. Dieses Parlament wurde offiziell Große Nationalversammlung genannt, derselbe Titel, den auch der heutige türkische Staat für seine gesetzgebende Körperschaft verwendet.

Bei der Wahl von 1920 wurden Abgeordnete für die Versammlung in Ankara gewählt, wobei auch unabhängige Abgeordnete des osmanischen Parlaments in Istanbul, dem neuen gesetzgebenden Organ in der zentralanatolischen Stadt, die später zur türkischen Hauptstadt wurde, kandidierten. Diese Wahl war von entscheidender Bedeutung, da die in Ankara ansässige Versammlung den Unabhängigkeitskrieg gegen die Besatzungstruppen erfolgreich führte.

Eine weitere wichtige Wahl fand im Juni 1923 vor der Ausrufung der Republik Türkiye im Oktober desselben Jahres statt, die den Übergang von der Monarchie zur Republik manifestierte.

Diese Versammlung des Unabhängigkeitskrieges hatte einen bis dato noch nie dagewesenen demokratischen Charakter, da es erstmals zwei politische Fraktionen gab, die Erste Fraktion und die Zweite Fraktion, die in Bezug auf die Ausrichtung von Türkiye gegensätzliche Positionen vertraten. Die Große Nationalversammlung gewann den Unabhängigkeitskrieg, aber die beiden Fraktionen hatten unterschiedliche Ansichten über die Ausrichtung des Friedensabkommens mit den alliierten Mächten.

Während die von Mustafa Kemal geführte Erste Fraktion für die Annahme des Vertrags von Lausanne eintrat, lehnte die von konservativen Politikern dominierte Zweite Fraktion diesen Vertrag ab. Daraufhin lösten Mustafa Kemal und seine Anhänger die Versammlung auf und riefen Neuwahlen aus, um eine friedensorientierte Mehrheit im Parlament zu erreichen.

Mustafa Kemals Erste Fraktion, die sich nach der Wahl in Volkspartei umbenannte, erhielt eine große Mehrheit im Parlament, da die Zweite Fraktion die Wahl boykottierte und die Auflösung der Versammlung als verfassungswidrig bezeichnete. Drei Monate nach der Wahl billigte das neugewählte Parlament den Vertrag von Lausanne und erklärte Türkiye zur Republik, womit gleichzeitig auch die osmanische Herrschaft beendet wurde.

Im Jahr 1924 änderte die Volkspartei ihren Namen in Republikanische Volkspartei (CHP).

1923-1950: Wahlen unter der Einparteienherrschaft

Die Wahlen von 1923 waren ausschlaggebend für den Beginn der Einparteienherrschaft der CHP, die bei den folgenden fünf Wahlen in den Jahren 1927, 1931, 1935, 1939 und 1943 keinen Gegner mehr hatte. Oppositionsgruppen wie etwa die Republikanische Fortschrittspartei und die Freie Republikanische Partei existierten nur kurz, da beide Parteien aufgelöst wurden und nicht an Wahlen teilnehmen konnten.

Mustafa Kemal Atatürk wurde in dieser Zeit viermal vom Parlament zum Präsidenten gewählt. Nach Atatürks Tod wurde die Einparteienherrschaft unter Ismet Inönü, dem zweiten Präsidenten von Türkiye, fortgesetzt, der ebenfalls viermal vom Parlament zum Präsidenten gewählt wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ebnete die damalige Führung in Türkiye den Weg für die Gründung anderer Parteien, und zum ersten Mal seit der Gründung der Republik durften Oppositionsparteien wie die Demokratische Partei (DP), deren Gründer ehemalige CHP-Mitglieder waren, gegen die CHP antreten. Dies markierte den Übergang des Landes zu einem Mehrparteiensystem.

Während andere Parteien bei den Wahlen von 1946 kandidieren durften, griff die CHP im Vorfeld und während der umstrittenen Wahl auf Repressalien gegen die DP zurück, einer konservativen Partei, die den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei der Gründung seiner AK-Partei 2001 stark inspirierte.

Infolgedessen bezeichnen viele die Wahl von 1946 als „manipulierte Wahl“. So verabschiedete die CHP vor der Wahl ein Wahlgesetz, das nach Ansicht vieler Analysten zahlreiche antidemokratische Regelungen enthielt.

Die Wahl von 1950

Trotz der Unterdrückungstaktik der CHP war der Aufstieg der DP nicht zu verhindern, so dass bei den Wahlen 1950 die konservative Partei unter der Führung von Adnan Menderes eine große Mehrheit im Parlament erhielt. Dies bedeutete auch, wie der führende türkisch-amerikanische Historiker Kemal Karpat feststellt, „den Wendepunkt im politischen und gesellschaftlichen Leben von Türkiye“.

Während des Wahlkampfs warb die DP mit einem Plakat, auf dem eine Hand mit der Aufschrift „Genug! Die Menschen haben das Recht zu entscheiden“ abgebildet wurde, welches enorme Wirkung auf die Bürger, die seit fast drei Jahrzehnten unter der CHP-Herrschaft lebten, entfaltete. „Selbst CHP-Anhänger fühlten sich von dem Plakat angesprochen“, schrieb Mehmet Oznur Alkan, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Istanbul.

Nach den Wahlen von 1950 gewann die DP die beiden aufeinanderfolgenden Wahlen von 1954 und 1957, wobei sie mit ihrer parlamentarischen Mehrheit Celal Bayar, einen Mitbegründer der konservativen Partei, dreimal zum Präsidenten wählte. Doch 1960 wurde die Herrschaft der DP durch den ersten Militärputsch des Landes unterbrochen.

1960-1980: Putsche und Wahlen

Der Putsch von 1960 führte zur Auflösung der DP und zur Inhaftierung ihrer führenden Abgeordneten und Funktionäre. Er führte auch zur Hinrichtung von Ministerpräsident Adnan Menderes, Finanzminister Hasan Polatkan und Außenminister Fatin Rüştü Zorlu. In der Gesamtwirkung hat der Putsch das politische System von Türkiye traumatisiert.

Schließlich wurde ein neues Wahlgesetz erlassen, das das D'Hondtsche System einführte. Dieses sah vor, dass die Sitze proportional zu den erhaltenen Stimmen in den verschiedenen Wahlgebieten zugeteilt wurden. Dieses Wahlsystem ist in Türkiye bis heute weitgehend in Kraft.

Trotz des brutalen Putsches erhielten die konservativen Parteien bei der Wahl 1961 wiederum die meisten Stimmen. Die Gerechtigkeitspartei (AP) unter Süleyman Demirel, einem Mitte-Rechts-Politiker, der von den 1960er bis zu den 1990er Jahren verschiedene konservative Regierungen führte, nahm dabei für sich in Anspruch, die politische Linie der DP fortzusetzen.

Die AP gewann die nächsten beiden Wahlen in den Jahren 1965 und 1969, erlangte Mehrheiten im Parlament und bildete konservative Regierungen unter Demirel. Doch eine weitere Militärintervention im Jahr 1971 unterbrach die zweite Demirel-Regierung und versetzte der türkischen Demokratie einen weiteren Schlag.

Das Militärmemorandum von 1971 führte zu einer Reihe von Koalitionsregierungen. Demirels Zusammenarbeit mit der Armeeführung nach dem Militärmemorandum von 1971 kam ihn teuer zu stehen, da danach keine Partei unter seiner Führung bei Wahlen eine Mehrheit erringen konnte. Die CHP unter Bülent Ecevit, einem aufstrebenden linken Politiker, gewann die Wahlen von 1973 und bildete eine kurzlebige Koalitionsregierung mit der Nationalen Erlösungspartei (MSP), einer konservativen politischen Gruppierung.

Bis zu den Wahlen von 1977, die wie die Wahlen von 1973 ohne eindeutige Mehrheitsverhältnisse verliefen, wurde Türkiye entweder von Minderheits- oder Koalitionsregierungen geführt. Dies war bis zum Putsch von 1980 der Fall, der das gesamte politische Parteiensystem von Türkiye und alle Parteien auflöste.

Von den 1980er bis zu den 2000er Jahren: Rückkehr der Koalitionen

Nach dem Putsch von 1980 fanden 1983 die ersten Wahlen statt, bei denen die Mutterlandspartei (ANAP) unter Turgut Özal, einem konservativen Politiker mit Wurzeln in der MSP, wie übrigens Erdoğan auch, eine parlamentarische Mehrheit errang. Bei den Wahlen 1987 errang Özals Partei einen weiteren Sieg. Dabei spielte auch die 10-Prozent-Hürde eine entscheidende Rolle, die 1983 von den Putschisten eingeführt worden war, angeblich um die politische Stabilität im Land zu erhöhen.

Nach der Wahl von Özal zum Präsidenten begann die ANAP jedoch zu schrumpfen und verlor die nächste Wahl 1991. Zwischen 1991 und 2002, als letztlich die AK-Partei mit einem Erdrutschsieg an die Macht kam, konnte bei den abgehaltenen drei Wahlen keine Partei eine Mehrheit im Parlament erringen. Koalitionsregierungen beherrschten die politische Landschaft in Türkiye.

2002-2023: Wahlsiege der AK-Partei

Unter Erdoğans Führung eroberte die AK-Partei die türkische Politik und gewann in den Jahren 2002, 2007 und 2011 jeweils die Wahlen. Bei den Wahlen im Juni 2015 verlor die AK-Partei zwar ihre parlamentarische Mehrheit, doch schon bei den Wahlen im November desselben Jahres gewann sie diese wieder zurück. Die Neuwahlen wurden abgehalten, da die siegreichen Parteien nicht in der Lage waren, eine Regierung zu bilden, was zu einer Pattsituation führte.

2014 wurde Erdoğan nach einer Verfassungsänderung aus dem Jahr 2007, mit der die Wahl des Präsidenten durch das Volk festgeschrieben wurde, zum ersten Mal in einer Volksabstimmung zum Präsidenten gewählt.

Nachdem das parlamentarische System mit dem Referendum von 2017 in ein präsidiales Modell umgewandelt wurde, gewann Erdoğan 2018 eine weitere Präsidentschaftswahl, wobei die Volksallianz, bestehend aus der AK-Partei und der Partei der Nationalen Bewegung (MHP), eine Mehrheit im Parlament erreichte.

Mit den für Mitte Mai angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 wird sich entscheiden, wie sich die politische Landschaft von Türkiye entwickeln wird, wobei das von der AK-Partei geführte Bündnis ein weiteres Malgegen ein von der CHP angeführtes Sechs-Parteien-Bündnis ins Rennen geht.