Diese Woche überfiel das israelische Militär mitten in der Nacht die palästinensische Familie Salhiya in deren Haus in Sheikh Jarrah, einem Stadtteil von Ostjerusalem. Fünfzehn Mitglieder der Familie wurden vertrieben und sind nun obdachlos. In der Kälte mussten sie zuschauen, wie ihr Haus vor ihren Augen zerstört wurde. Mehr als ein Dutzend Mitglieder der Familie wurden von israelischen Besatzungskräften festgenommen. Laut Zeugenaussagen wurden mehrere Familienmitglieder von israelischen Soldaten geschlagen, darunter auch ein neunjähriges Mädchen.
Die Familie lebte jahrzehntelang in diesem Haus. Ursprünglich stammt die Familie Salhiya aus Ein Karem, westlich von Jerusalem. Wie die meisten Palästinenser wurde die Familie Opfer der ethnischen Säuberung im Jahr 1948. Wie viele andere Palästinenser wurde auch sie nun zum wiederholten Male vertrieben.
Israel nutzt koloniale Bürokratie als Rechtfertigung. So sollen israelische Gerichte entschieden haben, dass auf dem Grundstück der Familie eine Schule errichtet werden soll. Das palästinensische Ostjerusalem befindet sich seit 1967 unter einer militärischen Besatzung des israelischen Regimes, das laut internationalem Recht illegal ist und durch ein Apartheidregime aufrechterhalten wird.
Geplante ethnische Säuberung
Die Tragödie der Familie Salhiya ist kein Einzelfall. Israelische Besatzung prägt den Alltag von Millionen von Palästinensern. Vor allem in Ostjerusalem verfolgt das israelische Regime eine gezielte Politik der ethnischen Säuberung. Palästinenser sollen vertrieben werden, um Platz für Siedler zu schaffen.
Sporadisch erregen sogenannte Eskalationen auch die Aufmerksamkeit westlicher Medien, so wie im Mai 2021, als die Familie El-Kurd vertrieben werden sollte. Massen von Israelis marschierten damals durch Sheikh Jarrah, um die einheimische palästinensische Bevölkerung einzuschüchtern. „Tod den Arabern“ war einer der Rufe, die skandiert wurden. Palästinenser, die israelische Angriffe auf Zivilisten online dokumentierten, wurden auf sozialen Netzwerken zensiert.
Die andauernde Nakba
Doch was derzeit in Sheikh Jarrah geschieht, geschah überall in Palästina und stellt eine Struktur des israelischen Kolonialismus dar. Al Nakba (arabisch für „Katastrophe“) bezeichnet die ethnische Säuberung von 1948, als zionistische Kolonialisten die überwältigende Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung vertrieben und Hunderte von Ortschaften zerstörten. Die Gründung des Staates Israel wurde durch diese Verbrechen ermöglicht.
Die Nakba ist als strukturelle Form der kolonialen Gewalt zu verstehen, die sich gegenwärtig in verschiedenen Menschenrechtsverletzungen an Palästinensern manifestiert. Dazu gehören auch kontinuierliche Vertreibung und Enteignung.
Selbst nach über sieben Jahrzehnten wird die Nakba in der westlichen und israelischen Historiographie vernachlässigt oder sogar geleugnet – obwohl die Gräueltaten von 1948 äußerst gut dokumentiert sind. Auch mehrere israelische Historiker produzieren seit Jahrzehnten wichtige Forschung über die Nakba. Erst diese Woche wurden neue Details über die von Israelis verübten Massaker im Jahr 1948 bekannt.
Chaos, Konflikt und andere Euphemismen
Dennoch wird die rigoros geplante, gewaltsame Vertreibung der Palästinenser und Zerstörung ihrer Häuser, wie sie heute stattfindet, weiterhin im dominanten Mediendiskurs und vor allem von westlichen Politikern verharmlost. So prägen seit Langem Euphemismen wie „Chaos“, „Konflikt“ oder auch „Eskalation“ die Schlagzeilen. Bewertet man die aktuelle Lage nach der westlichen Medienberichterstattung, könnte man davon ausgehen, dass die Familie Salhiya höchstens Opfer einer Zwangsräumung wurde oder in einen juristischen Konflikt involviert ist und dass ihr Haus einfach eingestürzt sei. „Ein palästinensisches Haus stürzt in Jerusalem ein“ war tatsächlich eine Schlagzeile der französischen Zeitung „Le Figaro“. Israelische Gewalt wird selten als solche identifiziert.
Während Israel die gewaltsame Politik transparent fortsetzt, hält vor allem die Europäische Union weiterhin an bedeutungslosen Konzepten wie „Friedensprozess“ und „Zwei-Staaten-Lösung“ zwischen Israel und der mit Israel alliierten palästinensischen Autonomiebehörde fest.
Die Europäische Union ist „sehr besorgt“
Auch diese Woche folgt die Europäische Union weiterhin ihrer traditionellen Passivität. Seit Jahren recycelt die EU regelmäßig schwach formulierte Stellungnahmen, in denen sich die Union „besorgt“ oder „sehr besorgt“ über die jeweils aktuellen Ereignisse zeigt und entweder „beide Seiten“ zur Deeskalation aufruft oder Israel bittet, den Siedlungsbau zu unterlassen.
Vertreter mehrerer EU-Staaten ließen sich diese Woche am Tatort fotografieren. Sie „beobachteten“ die „Räumung“ der Familie, wie das offizielle Twitterprofil der EU in Palästina berichtete. „Es ist unerlässlich, die Situation zu deeskalieren und eine friedliche Lösung anzustreben“, so die EU. In dem Tweet hieß es weiter: „Zwangsräumungen/Zerstörung sind nach internationalem Recht illegal und untergraben erheblich die Aussichten auf Frieden und schüren Spannungen vor Ort.“ Natürlich gibt es weder Aussichten auf eine Deeskalation noch auf sogenannten „Frieden“. Das israelische Regime ist transparent in Bezug auf seine koloniale Expansion. Die EU verharmlost durch ihren diplomatischen Diskurs die israelische Gewalt öffentlich und verschlimmert damit das Leiden der Palästinenser.
Tatsächlich hat die EU sogar einen Repräsentanten für einen „Friedensprozess“ in Nahost ernannt, den niederländischen Politiker Sven Koopmans. Auch dieser äußerte sich wieder einmal „besorgt über die Situation in Gaza und Israel.“ Das neue Jahr müsse, so Koopmans, einen neuen Ansatz bieten, „aus der Hoffnungslosigkeit und dem Zyklus der Gewalt auszubrechen.“ Die orientalistische Annahme, dass Gewalt im Nahen Osten ein natürlicher Zustand ist, verschleiert die Ursachen und Folgen dieser Gewalt und damit auch die Rolle der Europäischen Union, die Palästinenser nicht als Opfer kolonialer Politik identifizieren will.
Auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich in einer gemeinsamen Erklärung mit den Außenministern Frankreichs, Italiens und Spaniens „sehr besorgt über die Entscheidung, Pläne für den Bau hunderter neuer Wohneinheiten in Ostjerusalem voranzutreiben“. Zwar identifiziert die Erklärung korrekterweise, dass die israelischen Siedlungen „eine eindeutige Verletzung des Völkerrechts“ darstellen, doch mehr als die israelische Regierung dazu aufzurufen, „Räumungen“ und „Abrissmaßnahmen“ „dauerhaft zu unterlassen“, macht die EU nicht.
Nicht nur ist diese Wortwahl äußerst euphemistisch, wenn man bedenkt, dass es sich um Vertreibung und ethnische Säuberung handelt. Die EU garantiert dem israelischen Regime die Freiheit, diese Gewalt fortzusetzen. Kein israelisches Verbrechen war Brüssel jemals brutal genug, um schärfere Kritik zu üben. Im Vorgehen gegen politische Gegner wie Russland oder Weißrussland zögert die EU jedoch nicht, Sanktionen zu verhängen oder Drohungen auszusprechen.