Während des Studiums der internationalen Beziehungen kehrte sein Name regelmäßig auf den Leselisten wieder: Alexis de Tocqueville. 1831 bereiste der französische Jurist die USA für ein Jahr lang. Daraus entstand das Werk „De la démocratie en Amérique“. Für uns Studenten war sein Buch damals, vor 35 Jahren, ein Muss. Wir debattierten über die Gültigkeit seiner Analyse. In den 1980er Jahren ahnte keiner, dass seine Aussagen zur Jahreswende 2020/21 eine derartige Aktualität entfalten würden.
Alles beim Alten
In Washington traf der junge Franzose den US-Präsidenten Andrew Jackson, der in der Armee Karriere gemacht hatte. Jackson war durch und durch Amerikaner, sprach in einfachen, oft auch vereinfachenden Sätzen. Im Namen des „common man“ machte er sich lustig über das Establishment des Nordostens. Erinnert irgendwie an unsere Zeit?! Diese Gespräche haben die Autorin zur Überlegung veranlasst: Für die öffentlichen Ämter würden sich die Begabtesten gar nicht erst melden. Denn in den USA würden solche Persönlichkeiten vielmehr nach Wohlstand streben. Der Franzose erkannte das Risiko, dass sich das Mittelmaß anstelle der Exzellenz durchsetzen würde.
Seine Beobachtungen haben leider gleichsam universelle Gültigkeit erlangt, wie auch der Satz: „Der Allmacht der demokratischen Mehrheit sind kaum institutionelle Grenzen gesetzt; es besteht darum die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit.“ Tocqueville sah voraus, dass die Demokratie auch in eine Diktatur der Mehrheit umschlagen kann. Letzte Woche, als die Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington über die Bildschirme flimmerten, holte ich mein abgegriffenes Exemplar der Tocqueville-Bände aus dem Regal. Beim Blättern stieß ich auf Sätze, die besser als jeder aktuelle moralisierende Leitartikel die Lage in den USA beschreiben.
Tocqueville weilte dreißig Jahre vor dem Bürgerkrieg in dem Land. Jener Krieg hatte das Zeug, den jungen Staat zu zerreißen. Nicht nur im Bruch zwischen Norden und Süden und rund um die Rassismus-Debatte wirken die Gräben bis heute fort. Hinzu kommt die bedenkliche „woke culture“, welche die politische Auseinandersetzung lähmt und Andersdenkende stigmatisiert.
Ein Riss geht durch das Land
Rund um die Wahlen wurde ich in Interviews mit RT gefragt, ob es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, und verneinte dies damals. Zwei Monate später bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich war zuletzt im Herbst 2018 in New York. Diese Stadt, die ein Kosmos für sich ist, spiegelt kaum das restliche Land wider. Das politische Zentrum Washington ist genauso weit entfernt von der Wirklichkeit. In diesen Tagen militarisiert sich das Kapitol geradezu. 15.000 Truppen wurden zusammengezogen, das sind mehr Soldaten, als die USA noch im Irak und in Afghanistan unterhalten. Bilder zeigen, wie Dutzende Soldaten mit Ausrüstung auf den Gängen des Gebäudes am Boden schlafen. Auch das ist ein Spiegel der Zustände.
Voller Anspannung blicken die Menschen in den USA und mit ihnen der Rest der Welt auf den Tag der Amtsübergabe an Joe Biden am 20. Januar. Donald Trump hat angekündigt, nicht dabei zu sein. Dies war einer seiner letzten Tweets, bevor der Tech-Konzern Twitter ebenso wie Facebook und Youtube seine Konten sperrte, und dies offenbar dauerhaft. Ohne Twitter wäre er nicht Präsident geworden, sagte er einst der Financial Times. 90 Millionen Menschen folgten ihm, rieben sich die Augen über seine nächtlichen verbalen Ausritte. Harsche Kritik kam nicht nur von seinen Anhängern oder Juristen aus aller Welt, auch Kanzlerin Angela Merkel fand ebenso wie der russische Blogger Alexej Nawalny klare Worte für dieses fragwürdige Vorgehen. Wer folgt hier welchen Regeln, wer löscht oder blockiert? Fragen, die nicht zum ersten Mal virulent werden. Eine der Antworten könnte in neuen Kommunikationsplattformen bestehen. Doch Parler, das sich als eine solche Konkurrenz verstand, wurde bereits als App aus dem Apple Store gelöscht. Der Publizist Glenn Greenwald, der einst die Investigationsgruppe The Intercept gründete, sieht darin zu Recht eine massive Gefährdung der Meinungsfreiheit. In seinem lesenswerten Blog Substack seziert Greenwald diese Monopole und ihre Gefahren. Ein Sohn Trumps setzt auf den Tausendsassa Elon Musk, eine neue Firma in diesem Sinne zu gründen.
Deplatforming ist die neue Exkommunikation
Trump wurde also mundtot gemacht. Das Vorgehen erinnert mich an die Zeit des deutschen Hochmittelalters, als Kaiser und Päpste in ihrem wechselseitigem Anspruch auf die totale Macht, geistlich wie weltlich, einander befehdeten. Der Papst hatte das Mittel der Exkommunikation, also des Ausschlusses aus der katholischen Kirche. Ein exkommunizierter Kaiser war ohne Legitimation und musste zu Kreuze kriechen. Es folgten Kirchenspaltungen, die vielen Etappen der Reformation und Kriege. Wir sind mittendrin in einem Machtkampf der Giganten mit ungewissem Ausgang. Viele Bauernopfer könnten dabei erbracht werden. Nach dem 20.1.2021 wird manches erst richtig ausbrechen; es sollte uns nicht überraschen. Denn für alles gibt es einen Grund.