Archivbild – Versuchter Sturm auf den Bundestag: Im August 2020 hatten Demonstranten Absperrgitter überstiegen und mit Gewalt Widerstand gegen Polizisten geleistet. / Photo: DPA (dpa)
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Die Reichsbürgerszene bestimmt derzeit die Schlagzeilen in Deutschland. Anfang Dezember ging die Polizei mit rund 3000 Beamten bundesweit gegen das Netzwerk vor. Es war die größte Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesanwaltschaft ließ in elf Bundesländern sowie in Italien und Österreich 25 Personen festnehmen. Darunter waren auch aktive und ehemalige Polizisten, Soldaten sowie eine Richterin und eine Ex-Bundestagsabgeordnete der AfD.

Die Reichsbürger sind offenbar in der Mitte der Gesellschaft angekommen und teilweise mit dem Staatsapparat gut vernetzt. Doch worum genau handelt es sich bei den sogenannten Reichsbürgern und was wollen sie erreichen? Zafer Meşe, Politikwissenschaftler und Deutschlandkoordinator der Denkfabrik SETA, erklärt im Gespräch mit TRT Deutsch, was es mit der umstrittenen Bewegung auf sich hat.

Wer sind die sogenannten Reichsbürger?

Die Reichsbürgerbewegung entstand in den 1980er Jahren und tritt seit 2010 verstärkt in Erscheinung, einzelne Akteure seit 2013 auch mit gewaltbereiter Militanz. Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) beträgt die Zahl der Reichsbürger deutschlandweit im Jahr 2022 etwa 23.000 Personen – davon sind rund 1250 Anhänger rechtsextremistisch eingestellt. Das gewaltorientierte Personenpotenzial der Reichsbürger umfasst 2100 Personen.

Die Reichsbürgerbewegung ist ein Sammelbegriff für eine organisatorisch und ideologisch heterogene sowie vielschichtige Szene aus meist Einzelpersonen sowie teilweise sektenartigen Klein- und Kleinstgruppen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat nicht anerkennen und ihre Rechtsordnung ablehnen.

Es existiert keine dominante Gruppe. Etliche „Reichsregierungen“ erkennen sich untereinander nicht an, andere kooperieren miteinander. Lediglich etwa zehn Prozent der Angehörigen der Reichsbürgerszene sind in Gruppen organisiert.

Welche Ideologie vertreten die Reichsbürger?

Die Reichsbürgerbewegung vertritt eine autoritär-revisionistische, monarchistische Ideologie, die grundsätzlich eine pluralistische, liberal-demokratische Gesellschaftsform mit Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung ablehnt. Zur Ideologie der Reichsbürger gehören folgerichtig die Ablehnung der Demokratie sowie die Wiederherstellung des Deutschen Kaiserreichs in Form einer antidemokratischen und autoritären Monarchie.

Reichsbürger behaupten, die Bundesrepublik sei „illegitim“. Was ist damit gemeint?

Die Nichtanerkennung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer demokratischen Strukturen begründen die Reichsbürger mit der Behauptung, dass das Deutsche Reich statt der Bundesrepublik weiterhin fortbestehe, da die Weimarer Reichsverfassung von 1919 niemals abgeschafft worden sei – auch nicht nach der Machtergreifung der NSDAP 1933. Daher sei die Bundesrepublik nicht mit dem Deutschen Reich als Staat identisch, sondern völker- und verfassungsrechtlich illegal und de jure nicht existent. Allein das Deutsche Reich als Organisation bestehe in rechtsgültiger Weise fort. Infolgedessen seien Gesetze, Gerichte und die erhobenen Steuern der Bundesrepublik unrechtmäßig.

Wer schließt sich der Szene an?

Reichsbürger wurden nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie aktiver denn je. Die bundesweiten Bürgerproteste als Reaktion auf die strengen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nutzten die Reichsbürger, um sich mit anderen Protestgruppen – wie Querdenker, Rechtsextremisten, Impfgegner, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Justizopfer etc. – zu verlinken. Die regionalen Kooperationen führten bundesweit zu einer erhöhten Dynamik und Aktivität. Sie boten Reichsbürgern erweiterte Spielräume und Rezeption für ihre Agitation gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Für wie gefährlich halten Sie die offengelegten Verbindungen zwischen AfD und Reichsbürgerszene?

Die Großrazzia hat gezeigt, dass die AfD Verbindungen hat und unter Verdacht steht, der parlamentarische Arm der Reichsbürgerszene zu sein – daher konsequenterweise beobachtet werden sollte. Es ist kein Geheimnis, dass die AfD eine offen verfassungsfeindliche Partei ist, die im Bundestag als parlamentarische Schnittstelle für Hass, Hetze und Gewalt agiert. Laut Bundesanwaltschaft hatte die Reichsbürgergruppe darüber hinaus eine Stürmung des Reichstags geplant.

Ermittlern zufolge gibt es bewaffnete und gewaltbereite Mitglieder in der Reichsbürgerszene. Wäre vor diesem Hintergrund ein Putsch in Deutschland denkbar?

Ich denke, dass Deutschland eine starke institutionelle Demokratie ist, die mitunter wehrhaft ist. Trotz teilweise besorgniserregenden antidemokratischen Bestrebungen im Bereich Rechtsextremismus sind die Sicherheitsbehörden in der Lage, einen Staatsstreich in Deutschland im Keim zu ersticken.

Kann man davon auszugehen, dass Russland diese Bewegung direkt oder indirekt unterstützt?

Nach Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden stehen einige Reichsbürger unter dem Einfluss des russischen Geheimdienstes – unter anderem für pro-russische Propagandazwecke in der deutschen Öffentlichkeit. Meiner Einschätzung nach hat Russland in der Tat großes Interesse an einer Kooperation mit der Reichsbürgerszene, insbesondere mit denjenigen, die in deutschen Sicherheitsbehörden arbeiten.

TRT Deutsch