Porträt von Ibn Khaldun (Getty Images)
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von Till C. Waldauer

In den meisten westlichen Schulbüchern, aber auch im Bereich der höheren Bildung wird man zumeist vergeblich nach dem Namen von Ibn Khaldun suchen. Umso beachtlicher erscheint es, dass Paul Meany, Historiker und Redakteur für Ideengeschichte des US-amerikanischen Cato-Instituts, dem muslimischen Denker aus dem 14. Jahrhundert einen umfangreichen Podcast-Beitrag auf der Seite „libertarianism.org“ gewidmet hat.

Meany präsentiert den 1332 in Tunis geborenen Gelehrten, dessen Karriere als Kalligraph begonnen hatte, als einen bedeutsamen Staatsmann und Gelehrten, der unter anderem im Andalusien des 14. Jahrhunderts Impulse gesetzt hatte.

Pest und Bürokratisierung als prägende Erfahrungen

Mit seinen Überlegungen über Themen wie Arbeitsteilung, freien Handel und die Höhe der Steuerbelastung habe er erst 400 Jahre danach und später angefertigte Arbeiten von Adam Smith, David Ricardo oder David Hume vorweggenommen. Ibn Khaldun könne daher als bedeutender Wegbereiter des klassischen Liberalismus betrachtet werden, der in den USA als „Libertarianism“ von europäischen Konzepten gleichen Namens abgegrenzt wird.

Ibn Khalduns Meister Al Abili aus Tlemcen, einer Stadt in Algerien, führte ihn in die Mathematik ein. Während seines Studiums bei den besten und klügsten Köpfen Nordafrikas erwarb Khaldun nach und nach auch Fachkenntnisse in den Bereichen Philosophie, Wirtschaft und Sozialwissenschaften.

Was sein Denken und Schaffen in höchstem Maße prägte, waren die damaligen Erfahrungen weit verbreiteter Pest-Epidemien und eine Tendenz zur Bürokratisierung in den Herrschaftsetagen der muslimischen Welt, die sich negativ auf deren wirtschaftliche und technologische Entwicklung auswirken sollten.

Im Alter von 45 Jahren schrieb er 1377 sein bahnbrechendes Buch mit dem Titel „Die Muqaddimah“. Das Buch konzentrierte sich auf die Universalgeschichte. Mehrere moderne Denker betrachten die Muqaddimah als das erste wissenschaftliche Werk, das sich mit Sozialwissenschaften, Demografie und Kulturgeschichte befasste.

Drei Hauptebenen der Existenz

Professor Recep Sentürk, der Gründer der Internationalen Ibn-Khaldun-Gesellschaft, hatte bereits in einem TRT-World-Interview im Mai des Jahres die These vertreten, dass Khaldun nicht nur Vorläufer späterer Sozialwissenschaftler gewesen wäre. Vielmehr habe er eine „echte Alternative zu den hegemonialen eurozentrischen und positivistischen Sozialwissenschaften“ begründet.

Ibn Khaldun, so Sentürk, sei ein muslimischer Denker gewesen, der der Ash'ari-Schule der Theologie und der Maliki-Schule des Rechts angehörte. Um Khalduns Weltanschauung von der moderner Denker zu unterscheiden, sagte Sentürk, dass Khaldun wie alle anderen muslimischen Gelehrten der multiplexen (vielschichtigen, geschichteten) Weltanschauung (auf Arabisch marâtib al-wujûd) anhing, die davon ausgeht, dass es drei Hauptebenen der Existenz gibt: die materiell-sichtbare Welt, die nicht-materiell-unsichtbare Welt und die göttliche Welt.

Darauf nimmt auch Meany in seinem Podcast Bezug. Der Gelehrte habe den Menschen als Zoon Politikon, wie Aristoteles es nannte, begriffen, also ein Wesen, das danach strebe, in einem geordneten Leben zusammen mit seinen Mitmenschen zu existieren.

Khaldun ging davon aus, dass eine Ordnung auf der Grundlage der Scharia die den Gesetzen der Schöpfung und den Bedürfnissen des Menschen am besten entsprechende Ordnung des Zusammenleben im irdischen Leben wie im Jenseits darstelle. Da diese im Diesseits jedoch nicht vollständig verwirklichbar zu sein scheine, wäre es vonnöten, die zweitbeste Form der Organisation des Zusammenlebens anzustreben.

Zu hohe Steuern hemmen Fleiß und Wohltätigkeit

In diesem Kontext habe Ibn Khaldun die Bedeutung der Arbeitsteilung für die optimale Art und Weise erkannt, Menschen auf die bestmögliche Art und Weise mit dem zu versorgen, was sie in ihrem alltäglichen Leben benötigten. Wenn Hersteller von Gütern sich auf jene Bereiche konzentrierten, in denen sie ihre Fähigkeiten und Potenziale bestmöglich einbringen könnten, sei demnach den Bedürfnissen aller am Wirtschaftsleben Beteiligten optimal gedient.

Ibn Khaldun habe zudem vor exzessiver Steuerbelastung und erzwungener Umverteilung gewarnt. Steuern seien zwar erforderlich, um dem Staat die Finanzierung der Verteidigung des Eigentums und des inneren Friedens zu ermöglichen. Seien diese aber zu hoch, würden – so erkannte bereits Ibn Khaldun – Wirtschaftsentwicklung, Innovation, Fleiß, Kultur und die Bereitschaft zur Wohltätigkeit gehemmt werden.

Khaldun lehnte die akademische Praxis ab, sich auf ein Ideal zu konzentrieren, und ermutigte seine Studenten, ihre Konzepte mit wissenschaftlichem und rationalem Denken zu untersuchen. Er glaubte an Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Beweisen und Argumenten und argumentierte, dass diese Methoden es den Denkern ermöglichen, Fakten von Fiktion zu trennen. Daher könne man die Gesellschaft erfolgreich analysieren, wenn man die „soziale Organisation des Menschen“ mit einem „soliden Maßstab“ untersuche, anstatt Narrative von Historikern unhinterfragt zu akzeptieren.

Die Asabiyya als entscheidender Faktor für das Gemeinwesen

Ibn Khaldun befasste sich mit den Lebensgrundlagen der Städte, den Berufen der Menschen, dem Handel und den Produktionsbeziehungen. In dieser Hinsicht, so erläutert Esref Altas von der Medeniyet-Universität Istanbul, sei er der ursprüngliche Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften, dessen Name von westlichen Denkern jedoch weitgehend ignoriert worden sei, während sie viele seiner Ideen übernommen und als ihre eigenen ausgegeben hätten.

Ibn Khaldun befasste sich zudem mit der Frage nach den Ursachen historischer Entwicklungen, welche er gesellschaftlichen, kulturellen, klimatischen und anderen Faktoren zuordnet. Anders als beispielsweise heutige Nationalstaatstheoretiker wie Yoram Hazony, die den Nationalstaat als eine Einrichtung preisen, die auf der Grundlage eines teilweise abstrahierten gemeinsamen Willens sowohl den anarchischen Formen der Stammesherrschaft als auch imperialen Großreichen überlegen sei, betonte Ibn Khaldun die Bedeutung der Gruppensolidarität, wie sie vor allem Stammesgesellschaften eigen sei.

Er sah demnach die „Asabiyya“ als den entscheidenden Faktor für den Erhalt der weltlichen Macht in jeder Phase der Geschichte. Diese betont die Gruppensolidarität innerhalb von Stämmen, Sippen und Familien – wobei er allerdings auch erklärte, dass Blutsverwandtschaft nicht die einzige oder zentrale Quelle diesees Zusammengehörigkeitsgefühls sei. Auch Klientelverhältnisse oder Bindungen wie jene zwischen Schülern und Lehrern in Sufi-Orden spielten demnach eine zentrale Rolle in der Pflege der Asabiyya.

Zivilisationen fallen durch Korruption und Dekadenz

Ibn Khaldun sah auch einen grundlegenden sozialen Konflikt zwischen ländlich-beduinischem und städtisch-sesshaftem Leben. Religion und Glaube als Faktor würden die Asabiyya, die sich vielleicht am besten mit „Gemeinsinn“ beschreiben lässt, stützen, was insbesondere für den Erhalt des Gemeinwesens von Bedeutung sei. In den ländlichen Gebieten mit strengen sozialen Regeln bleibe die Asabiyya demnach konstanter und stärker als in der Stadt, wo freiere Verhältnisse zu Beginn Innovation und Dynamik hervorriefen, in weiterer Folge aber dann auch Korruption und Dekadenz, welche die Asabiyya schwächten und deshalb zum Untergang von Zivilisationen führten.

Khaldun starb während seines Aufenthalts in Ägypten am 17. März 1406. Er wurde im Alter von 74 Jahren auf dem Sufi-Friedhof außerhalb von Bab an-Nasr, Kairo, beigesetzt.

TRT Deutsch