Beim lockeren Aufwärmprogramm für den Achtelfinal-Kracher gegen Deutschland lächelte sogar Edelreservist Jadon Sancho. Englands Hochglanzfußballer um Sancho und Kapitän Harry Kane schoben am Donnerstag mit bester Laune den Ball hin und her, Trainer Gareth Southgate beobachtete die Einheit gewohnt ruhig. Die Three Lions bereiten sich mit einer Mischung aus Vorfreude und Gelassenheit auf den K.o.-Klassiker am nächsten Dienstag (18.00 Uhr) vor – die Nation dagegen zerreibt sich schon jetzt zwischen Euphorie und Sorge. „Mein Gott!“, titelte die Tageszeitung „Metro“ auf deutsch mit Blick auf diese hochbrisante EM-Konstellation.
Ausgerechnet Deutschland! Vor dem Duell der beiden Erzrivalen im Fußball-Tempel Wembley ist die deutsche Mannschaft nicht mal in Topform, doch der nahende Knaller gegen die DFB-Auswahl weckt auf der Insel böse Erinnerungen. Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren schmiss Deutschland die Three Lions im Elfmeterschießen aus dem EM-Halbfinale im eigenen Land. Jetzt zittert England wieder. „Weil es Deutschland ist, packt uns die Angst, dass sich Geschichte wiederholt“, schrieb das Boulevardblatt „The Sun“. Viermal trafen beide Teams seit der für England erfolgreichen WM 1966 bei großen Turnieren in K.o.-Spielen aufeinander – viermal gewann Deutschland.
Deutsche Elf Angstgegner der „Three Lions“
„Deutschland ist immer gut. Sie haben fantastische Spieler, das wird ein harter Test für uns“, sagte Mittelfeldspieler Jordan Henderson am Donnerstag. „Das ist ein spezielles Spiel. 1966 mit dem Wembley-Tor hat vermutlich alles begonnen.“ Ja, 1966, da war was. Auch dank dieses ungültigen Treffers gewannen die Engländer damals ihren bis heute einzigen Titel, danach fügte Deutschland ihnen einige schmerzhafte Niederlagen zu. Auch angesichts des Traumas bei der EM 1996 trainieren die Three Lions nun sogar fleißig Elfmeter. „Aber wir trainieren immer Elfmeter“, sagte Henderson.
Eigentlich ist es verrückt: Nur mit allergrößter Mühe, viel Glück und heftigen Kratzern hatte die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw den Nervenkrimi gegen Außenseiter Ungarn (2:2) überstanden, trotzdem wirbelt dieser Gegner die Emotionen in England durcheinander. England bangt, England hofft – außerdem stellt sich England Fragen: Wie stark sind diese Deutschen wirklich? Und wie stark sind wir eigentlich selbst? Dabei spricht nicht nur der schwache Auftritt der DFB-Auswahl gegen Ungarn für die Engländer. Trainer Southgate verfolgt den klaren Plan, sein Team zu einer Turniermannschaft zu entwickeln. England begeistert bei dieser EM nicht, aber England funktioniert.
Im aktuellen Turnier noch kein Gegentor kassiert
Der Weltmeister von 1966 hat bislang noch kein Gegentor kassiert. Wie schwer die Three Lions zu knacken sind, haben Vizeweltmeister Kroatien (1:0), Schottland (0:0) und Tschechien (1:0) bereits erfahren. Außerdem genießen die Engländer Heimvorteil. Bis zu 45 000 Zuschauer dürfen am Dienstag gegen Deutschland das englische Fußball-Heiligtum Wembley besuchen, und die allermeisten von ihnen werden einheimische Fans sein. «Wir können mit Selbstbewusstsein ins Spiel gehen. Zumal wir in Wembley mit unseren Fans spielen», sagte Flügelstürmer Bukayo Saka vom FC Arsenal. Der 19-Jährige steht sinnbildlich für einen weiteren Pluspunkt der Engländer.
Denn wie stark muss eine Nationalmannschaft offensiv besetzt sein, wenn sie Dortmunds Ausnahmekönner Sancho bislang gerade mal etwas mehr als sechs Turnierminuten gönnte? Die Three Lions haben nicht nur Sancho und den gegen Tschechien starken Saka, sondern auch noch Phil Foden, Doppel-Torschütze Raheem Sterling, ManU-Profi Marcus Rashford, Edeltechniker Jack Grealish und natürlich Captain Kane. Kaum eine andere EM-Mannschaft kann im Angriff mehr aufbieten. Und genau das macht viele Anhänger auf der Insel verrückt. Weil England bislang nicht zaubert, sondern zaudert.
Zwei Tore hat England dank Sterling in der Vorrunde erzielt. Nie zuvor hat ein Team in der EM-Historie mit so wenigen Toren seine Gruppe gewonnen. Aber es passt wunderbar zur Philosophie Southgates, der sicht nicht von der oft aufgewühlten Stimmung im Land, sondern von seinen Überzeugungen treiben lässt. Der 50-Jährige hat genau beobachtet, wie Portugal 2016 Europameister wurde und Frankreich zwei Jahre später den WM-Titel errungen hat: Nicht mit Spaßfußball, sondern mit Siegen. Darum kann das Volk ruhig vor den Deutschen zittern. Southgate dagegen bleibt sich treu. Und er lässt seine Mannschaft im Training auch vor dem ersten Kracher dieser EM lachen.