US-Präsident Joe Biden stellt gerne seine Empathie zur Schau, beim Thema Afghanistan aber lässt er kaum Mitgefühl erkennen. Dass das Land ins Chaos abgleitet, dass die Taliban zurück an der Macht sind, dass verzweifelte Afghanen um Hilfe flehen - nichts davon bringt Biden dazu, an seinem Entschluss zum Truppenabzug zu zweifeln. „Ich stehe voll und ganz hinter meiner Entscheidung“, sagt er am Montag, als er sich im Weißen Haus an seine Landsleute wendet. „Die Ereignisse, die wir jetzt erleben, sind der traurige Beweis dafür, dass keine noch so große Militärmacht jemals ein stabiles, geeintes und sicheres Afghanistan schaffen wird.“
Der US-Präsident räumt „viele Fehltritte“ in den vergangenen zwei Jahrzehnten des Einsatzes ein. Aus Sicht seiner Kritiker ist der schwerwiegendste Fehler die einseitige Abzugsentscheidung des Demokraten gewesen - der ranghöchste Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, spricht von einem „totalen Desaster“. Dass es in Afghanistan zur Katastrophe kam, lag an einer Vielzahl von Faktoren - und längst nicht nur an den Amerikanern. Auch Bidens drei Vorgänger im Weißen Haus haben aber Entscheidungen getroffen, die sich im Nachhinein als fragwürdig oder falsch herausstellten. Eine Auswahl:
GEORGE W. BUSH (2001 bis 2009): Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ordnete der Republikaner den US-geführten Einsatz in Afghanistan an. Das Taliban-Regime – das Al-Kaida-Chef Osama bin Laden nicht ausliefern wollte - stürzte bald darauf. Die Extremisten schienen geschlagen, die ausländischen Truppen wurden vielerorts als Befreier gefeiert. Bush sagte im Juni 2004: „Koalitionskräfte, darunter viele tapfere Afghanen, haben Amerika, Afghanistan und der Welt ihren ersten Sieg im Krieg gegen den Terror beschert.“
Die falsche Siegeszuversicht in Afghanistan lenkte die Aufmerksamkeit weg von dem Land. Währenddessen konnten sich die Taliban im benachbarten Pakistan ungestört neu formieren und in Afghanistan wieder Fuß fassen. Besonders verheerend: Die USA konzentrierten sich ab März 2003 auf ihre Invasion im Irak. Ressourcen und Truppen, die in Afghanistan benötigt worden wären, wurden stattdessen in den Irak geschickt. Während sich die Sicherheitslage in Afghanistan wieder verschlechterte, übten sich die Regierungen der Truppensteller darin, die Situation vor den Wählern schönzureden.
BARACK OBAMA (2009 bis 2017): Wegen der immer angespannteren Sicherheitslage verstärkte Obama die US-Truppen zunächst deutlich. Im Juni 2011 - kurz nach der Tötung Bin Ladens - legte der Demokrat dann einen Fahrplan für einen schrittweisen Rückzug der amerikanischen Soldaten und für ein Ende des Kampfeinsatzes vor. „Unsere Mission wird sich vom Kampfeinsatz zur Unterstützung verändern“, sagte Obama. „2014 wird dieser Übergangsprozess abgeschlossen sein, und die Afghanen werden für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sein.“
Ein deutscher Offizier in Kabul bemühte damals einen Vergleich mit der Feuerwehr, die schließlich auch nicht vorab ankündige, wann ein Einsatz beendet werde - sondern erst abrücke, wenn das Feuer gelöscht sei. In Afghanistan weckten Obamas Worte erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt des Nato-Versprechens, so lange zu bleiben, wie man gebraucht werde. Die Taliban deuteten Obamas Worte als Signal dafür, dass sie nur ausharren müssten, um an ihr Ziel zu gelangen. Auch wenn die schlechte Sicherheitslage Obamas Abzugspläne immer wieder verzögerte: Am Ende sollten die Taliban recht behalten.
DONALD TRUMP (2017 bis 2021): Der Abzug aus Afghanistan war ein erklärtes Ziel Trumps. Kurz vor dem Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 wollte der Republikaner 2019 bei einem Geheimtreffen auf dem Landsitz des Präsidenten in Camp David mit den Taliban zusammenkommen. Nach einem schweren Taliban-Anschlag in Kabul sagte Trump das Treffen ab. Im Februar vergangenen Jahres schloss seine Regierung dann aber ein Abkommen mit den Taliban in Doha, das einen Abzug der US-Truppen bis zum 1. Mai 2021 vorsah.
Die Taliban verpflichteten sich im Gegenzug unter anderem zu Friedensverhandlungen mit der Regierung in Kabul, die zu einem dauerhaften Waffenstillstand und einem politischen Fahrplan für die Zukunft Afghanistans führen sollten. Obwohl die Taliban sich nicht an das Abkommen hielten, reduzierte Trump die Zahl der US-Truppen in Afghanistan noch in den letzten Tagen seiner Amtszeit auf 2500. Das in vielen Punkten vage gehaltene Abkommen sorgte für massive Kritik - nicht zuletzt deswegen, weil die gewählte afghanische Regierung auf Drängen der Taliban gar nicht erst daran beteiligt war.
JOE BIDEN (seit 20. Januar 2021): Biden war schon als Obamas Vizepräsident ein Gegner des Afghanistan-Einsatzes. Nach seinem Einzug ins Weiße Haus brütete er monatelang über das weitere Vorgehen. Kurz vor dem Ablauf der Frist im Doha-Abkommen kündigte er dann im April seine Entscheidung an: Die USA würden ihre Truppen spätestens bis zum 11. September 2021 - dem 20. Jahrestag der Terroranschläge - vollständig aus Afghanistan abziehen, und zwar bedingungslos. Nato-Verbündete wie Deutschland wollten einen Abzug an Erfolge bei Friedensverhandlungen knüpfen. Auch US-Experten rieten von einem bedingungslosen Abzug ab.
Im Juli kündigte der Demokrat an, Ende August werde Schluss sein mit dem Einsatz. Die Taliban allerdings waren schneller. Seit ihrer faktischen Machtübernahme ist Bidens Versprechen Makulatur, die afghanische Regierung auch nach dem Truppenabzug zu unterstützen. „Ich weiß, dass meine Entscheidung kritisiert werden wird“, sagt Biden bei seiner Ansprache am Montag im Weißen Haus. „Aber lieber stecke ich all diese Kritik ein, als diese Entscheidung an einen weiteren Präsidenten der Vereinigten Staaten weiterzugeben.“