Am Freitag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Fund von 320 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Schwarzen Meer verkündet. Die Türkei erhofft sich aus diesem Fund entscheidende Vorteile in den Sektoren Energie, Wirtschaft und Politik. TRT Deutsch sprach darüber mit dem Energie- und Geopolitik-Experten Süha Çubukçuoğlu. Er ist Mitglied des Beirats des Maritimen Forums der Universität Koç in Istanbul.
Die Türkei hat im Schwarzen Meer 320 Milliarden Kubikmeter Erdgas entdeckt. Wie bedeutend ist der Fund?
Dies ist ein bedeutender Durchbruch für die Türkei. Nach vielen Jahren der Suche hat Ankara endlich bekannt gemacht, dass man im Spiel ist. Bisher hatte nur der Dreistaatenpakt Israel-Ägypten-Zypern seit 2010 im östlichen Mittelmeerraum bedeutende Entdeckungen gemacht.
Die Türkei hat einen Gasfund der Größenordnung bekanntgegeben, der in etwa den bisherigen griechisch-zypriotischen Funden zusammengenommen entspricht. Die Menge ist zwar ein mittelgroßer Fund, ist aber größer als die meisten Reserven im östlichen Mittelmeerraum.
Es würde ein bis zwei Jahre dauern, um Bewertungsläufe durchzuführen und die genaue Menge zu bestimmen, die aus dem Feld gewinnbar ist. Dann wären weitere vier bis fünf Jahre erforderlich, um die gewählte Transportoption umzusetzen, was insgesamt etwa sechs bis sieben Jahre dauern würde, um das Projekt zu monetisieren, also wirtschaftlich davon zu profitieren.
Die Türkei hat sich jedoch ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie will bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik im Jahr 2023 die Förderung beginnen und bis dahin alle erforderlichen Schritte abschließen.
Welches politische Signal sendet der Fund ans Ausland?
Dies ist ein wichtiger Schritt in Richtung wirtschaftliche Unabhängigkeit der Türkei, da die Energieimporte den Großteil des Leistungsbilanzdefizits des Landes ausmachen. Es übt Druck auf die türkische Lira aus, erhöht die Inflation auf zweistellige Werte und verursacht Haushaltsdefizite - abgesehen davon, dass zudem kostbare Devisenreserven des Landes in Anspruch genommen werden.
Die Monetisierung der Entdeckung, wenn auch in drei bis vier Jahren, würde der Türkei einen bedeutenden Vorteil in den Gesprächen gegenüber den wichtigsten Gas-/LNG-Lieferanten, nämlich den USA und Russland, verschaffen. Was bedeutet das für den Energiewarenkorb?
Konkret hat die Türkei mehr Spielraum, um den besten Energiemix in ihrem Portfolio aufzubauen. Dabei kann sie erneuerbare Energieprojekte subventionieren und hat bei der Festlegung des Kurses ihrer regionalen Außenpolitik eine freiere Hand.
Der Gesamtwert des Feldes in seiner jetzigen Form wird auf 50 bis 60 Milliarden US-Dollar geschätzt, was etwa sieben bis acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Türkei entspricht. Dies ist eine bedeutende Ressource und kann bei wichtigen Verhandlungen mit der EU einen Unterschied machen.
Nachdem die Türkei sich eine Art Goldgrube gesichert hat, kann man davon ausgehen, dass sie eine noch härtere Haltung einnehmen wird gegenüber den Aktionen der EU-Mitgliedsstaaten Frankreich, Griechenland und den griechischen Zyprioten im östlichen Mittelmeerraum.
Wie setzt sich der aktuelle Energiewarenkorb der Türkei zusammen?
Die Energieimportrechnung der Türkei beläuft sich auf 41 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Energie wird aus einer Vielzahl von nahen und fernen Ländern bezogen. Gegenwärtig ist die Türkei zu 99 Prozent von ausländischen Gaslieferungen und zu 95 Prozent von Öllieferungen abhängig.
Das importierte Gasvolumen beträgt 45-50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, von denen ein Teil in Form von Flüssigerdgas (LNG) konsumiert wird. Die USA haben Russland kürzlich beim Anteil der Gaslieferungen in die Türkei überholt, als die LNG-Spotpreise aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs in Zeiten von Covid-19, der Angebotsschwemme und des Nachfragerückgangs einbrachen.
Es besteht also ein feines Gleichgewicht zwischen den langfristigen Verträgen mit Russland, den zentralasiatischen Importen im Energiemix der Türkei und den LNG-Lieferungen aus den USA, dem Nahen Osten und Afrika.
Auf der einen Seite schrumpft das Gewicht Russlands in der Energiepolitik der Türkei auf dem Gasmarkt. Auf der anderen Seite bildet das gemeinsame Kernkraftwerk-Projekt Akkuyu ein Gegengewicht dazu.
Kurzfristig bleibt die Türkei energiepolitisch von ausländischen Lieferungen abhängig, aber die Entdeckung im Schwarzen Meer ist ein wichtiger Meilenstein: ein Meilenstein auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit. Dies ist nur eine Frage von Zeit, Anstrengung und Entschlossenheit.
Der türkische Finanzminister Berat Albayrak bezeichnete den Fund als „eine Achsenverschiebung“ für die Türkei. Wie interpretieren Sie diese Aussage?
Die Türkei hat ein Handelsdefizit sowohl mit den entwickelten Ländern des Westens als auch mit den aufstrebenden Märkten des asiatisch-pazifischen Raums wie China und Russland. 75 Prozent des türkischen Energieverbrauchs wird in der einen oder anderen Form importiert. Obwohl die Türkei bei den erneuerbaren Energien Fortschritte gemacht hat und eine Kapazität erreicht hat, die fast der Hälfte ihrer installierten Leistung entspricht, ist die Nachfrage nach Öl und Gas, insbesondere im Transport- und Industriebereich, nach wie vor groß.
Wie der Fall beispielsweise in den USA zeigt, sind Technologien für erneuerbare Energien (noch) nicht der alleinige Weg zum Ziel. Mit anderen Worten: Ein optimaler Mix aus Kernenergie, Kohlenwasserstoff und geothermischer Energie ist erforderlich, um den modernen Anforderungen gerecht zu werden.
Die „Achsenverschiebung“, von der Minister Albayrak spricht, ist wahrscheinlich der offizielle Beginn der Verwirklichung des langfristigen Potenzials der Türkei, Energieimporte durch lokale Ressourcen zu ersetzen und eines Tages Nettoenergieexporteur zu werden. Die Neupositionierung der Türkei hin zu einem „Preisgestalter“ weg von einem „Preisabnehmer“ im Energiebereich ist kein Traum mehr.
Wenn die Energieimportrechnung schrumpft, wird die Türkei dringend benötigtes Kapital umlenken, um in billigere, umweltfreundlichere und nachhaltige Energieprojekte zu investieren. Dies wird die Außenpolitik der Türkei gegenüber Europa und dem Nahen Osten erheblich verändern und sie in die Lage eines regionalen Machtzentrums versetzen.
Wird das türkische Energieunternehmen TPAO die Unterstützung von größeren Ölgesellschaften in Anspruch nehmen oder setzt man auch hier auf Unabhängigkeit?
Die TPAO hat in den letzten Jahren aggressiv Spitzenkräfte eingestellt, um ihre Ränge mit hochkarätigen, qualifizierten Fachleuten auf ihrem Gebiet zu füllen. Und auch das ist nur ein Anfang.
Es ist allerdings richtig: Die Türkei hat noch keine Erfahrung in der Tiefseeproduktion, um ein Projekt von ähnlicher Größe allein durchführen zu können. Kurzfristig wären große Ölkonzerne wie Chevron, Exxon, Qatar Petroleum und ENI Kandidaten, die dieses Know-how mitbringen und dann vielleicht mit den TPAO-Teams in einem Wissensaustauschprogramm zusammenarbeiten würden.
Wichtig ist auch der Kauf von Ausrüstung, Maschinen und Pipeline-/Verflüssigungstechnologie für den Transport und Export von Gas. Dies sind entscheidende Bereiche, für die die TPAO vermutlich bereits Pläne für die nahe Zukunft vorgelegt hat.
Wird der neue Energiefund hauptsächlich für den heimischen Markt oder auch für den Export zugänglich sein?
Zumindest anfänglich wird die neue Energie vorrangig für den heimischen Markt zugänglich sein. Türkische Industrieanlagen benötigen gaserzeugte Elektrizität, so dass das meiste, wenn nicht sogar das gesamte förderbare Gas, für die Stromerzeugung und zur Unterstützung von Reservekapazitäten und Stromspeichern zum Ausgleich erneuerbarer Energien verwendet wird.
Könnte Europa ein Exportmarkt werden?
Die Türkei verfügt über reichlich Gaspipelines, die über langfristige Verträge in das europäische Netz einspeisen, so dass der Schwarzmeerfund wahrscheinlich nicht auf der Liste für den sofortigen Export stehen wird.
Europa ist bestrebt, seine Energieversorgung zu diversifizieren, aber Russland, die USA und afrikanische Produzenten sind die Hauptakteure auf diesem Markt. Der Break-even-Preis für das türkische Schwarzmeerfeld würde wahrscheinlich weit über dem liegen, was die EU verhandeln kann. Schon heute kauft Europa Gas aus Russland zu einem Preisnachlass von 70 Prozent gegenüber dem Preis, den die Türkei zahlt. Auf den Energiemärkten sind Volumen und Größenvorteile wichtig. Daher ist das Exportpotenzial der Türkei im Moment, bis und solange keine neuen Ressourcen entdeckt werden, gering, aber die Türkei hat einen starken, stabilen lokalen Markt.
In letzter Zeit haben wir Spannungen mit Griechenland wegen der Energiereserven beobachtet. Wie beeinflusst die Entdeckung im Schwarzen Meer die Dynamik im Mittelmeer?
Griechenland ist, wie die Türkei, ein Netto-Energieimporteur. Athens Ziel ist es, nicht nur zu einer Energiedrehscheibe, sondern auch zu einem Lieferanten für die Region zu werden. In den letzten Jahren hat Athen versucht, sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen, der der entstehenden Allianz zwischen Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten zugute kommen soll. Es will den Offshore-Erdgastransport von der Levante nach Westeuropa ermöglichen und so die Türkei als Transitknotenpunkt umgehen – obwohl die Türkei der wirtschaftlich sinnvollere Weg ist.
Griechenlands Gas würde vor allem teuerer in der Förderung sein. Es birgt politische Risiken, ganz zu schweigen vom Preisrisiko und dem Risiko der Marktabschöpfung. Die Konturen des Tiefseebodens sind ungleichmäßig und stellen die Gewinnung und den Export von Gas vor eine große technische Herausforderung. Große Energiekonzerne wie Noble, Exxon und Shell haben ihre Aktivitäten für mindestens ein Jahr, wenn nicht sogar über das Jahr 2025 hinaus, gestoppt oder verzögert.
Was muss im östlichen Mittelmeer passieren, damit auch dort eine sinnvoller Energie-Lösung gefunden werden kann?
Der Trend geht dahin, die weitere Energieexploration im östlichen Mittelmeer zu verzögern, da die Unternehmen bei ihren Investitionen immer selektiver werden. Sie sind auf schnelle, billige und garantierte Renditen aus.
Die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeerraum könnten dort auf unbestimmte Zeit unberührt bleiben, es sei denn, die Parteien erzielen eine umfassende Einigung zur Beilegung ihrer Streitigkeiten über umstrittene Zonen und einigen sich auf Optionen zur Monetarisierung der Fördermengen. Es ist unwahrscheinlich, dass dies bald geschieht. Unter der wirtschaftlichen Last könnte Griechenland es eilig haben, seine Ausschließliche Wirtschaftszonen mit der Unterstützung seiner Verbündeten durchzudrücken, aber die Hand der Türkei ist jetzt stärker als je zuvor. Anders als bei Ankara könnte der Ehrgeiz Griechenlands und der griechischen Zyprioten aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Unterstützung Dritter irgendwann zum Stillstand kommen.
Vielen Dank für das Gespräch!