Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Deutschland in den vergangenen 16 Jahren durch viele Krisen gesteuert. Gleichzeitig hinterlässt sie das Erbe, einige tiefgreifende strukturelle Probleme in Europas größter Volkswirtschaft nicht angegangen zu sein.
Trotz eines „goldenen Jahrzehnts“ mit ununterbrochenem Wachstum und Haushaltsüberschüssen sind sich die meisten Ökonomen einig, dass Deutschland seine öffentliche Infrastruktur vernachlässigt und zu wenig in die Digitalisierung investiert hat.
Das Ifo-Institut prognostiziert für 2022 ein Wirtschaftswachstum von sagenhaften 5,1 Prozent – die stärkste Rate seit dem Wirtschaftsboom Anfang der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands.
Die ungewöhnlich starken Wachstumsaussichten sind vor allem auf die Erholung und die Nachholeffekte der Corona-Pandemie zurückzuführen. Doch unter der glänzenden Oberfläche sieht es weniger rosig aus.
Wenn Deutschland in den nächsten Jahren nicht weiter zurückfallen will, muss die kommende Koalitionsregierung diese drei Herausforderungen angehen:
Die verschlafene Digitalisierung
In der Merkel-Ära ist Deutschland im Bereich der Digitalisierung weiter zurückgefallen. Das ergab eine im September kurz vor der Bundestagswahl veröffentlichte Studie des European Center for Digital Competitiveness mit Sitz in Berlin.
In der Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G-20) liegt Deutschland im Bereich Digitalisierung auf Platz 18, nur Japan und Indien schneiden noch schlechter ab.
Das Ziel der Bundesregierung, schnelles Internet über ein flächendeckendes Netz anzubieten, liegt noch in weiter Ferne. Es gibt immer noch zu wenig Glasfaserkabel, insbesondere in ländlichen Gebieten.
Auch beim Ausbau des 5G-Mobilfunks hinkt Deutschland hinterher, was kleine und mittlere Unternehmen in bestimmten Regionen ausbremst.
Schließlich fehlt es der Bundesrepublik an IT-Fachkräften. Nach Angaben des Branchenverbands Bitkom sind derzeit 86.000 Stellen für IT-Experten unbesetzt. Sieben von zehn Unternehmen klagen demnach über einen Mangel an IT-Fachkräften und 60 Prozent erwarten, dass sich die Situation in den kommenden Jahren verschärfen wird.
Chip-Engpässe in der Autoindustrie
Die deutsche Autoindustrie hat seit der Corona-Krise erhebliche Probleme, die Produktion hochzufahren, weil es an Halbleitern und anderen Komponenten mangelt.
Da heimische Autohersteller und Zulieferer fast ausschließlich auf Chips von wenigen Herstellern in Asien und den Vereinigten Staaten angewiesen sind, haben die Unterbrechungen der Lieferketten eine Achillesferse im Geschäftsmodell der hiesigen Autoindustrie offenbart.
Während Deutschland im Zuge der Globalisierung einen Boom erlebt hat, erweist sich das weltweite Netz von Lieferketten, welches die Wirtschaft angekurbelt hatte, nun als kritische Schwachstelle.
Laut einer Umfrage des Ifo-Instituts meldeten im September 77,4 % der Industrieunternehmen Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Zwischenprodukten und Rohstoffen. Bei den Automobilherstellern stieg diese Zahl auf beispiellose 97 %.
Die alternde Bevölkerung
Nach Jahrzehnten, die von relativ niedrigen Geburtenraten sowie ungleichmäßiger - und inzwischen oft ungewollter - Zuwanderung gekennzeichnet sind, wird Deutschland immer älter.
Angesichts einer rasch alternden Gesellschaft und einer schrumpfenden Zahl von Erwerbstätigen hat Merkel Forderungen nach einer Reform des öffentlichen Rentensystems und einer flexibleren Gestaltung der Einwanderungsregeln weitgehend ignoriert.
Nach aktueller Gesetzeslage soll das Alter, mit dem Bürger eine volle staatliche Rente ohne Abschläge beziehen können, bis 2031 schrittweise von 65 auf 67 Jahre steigen. Ein Gremium von Wirtschaftsberatern der Bundesregierung hat sogar vorgeschlagen, die Altersgrenze bis 2042 weiter auf 68 Jahre anzuheben. Das Gesetz war von Merkels erster Koalitionsregierung im Jahr 2006 eingeführt worden.
Nach Angaben des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) wird der Höhepunkt der Beschäftigung in Deutschland voraussichtlich im Jahr 2023 mit fast 46 Millionen Erwerbstätigen erreicht sein. Danach werden voraussichtlich mehr Menschen den Arbeitsmarkt verlassen als neue Arbeitskräfte hinzukommen. Das bedeutet, dass Deutschland ab 2026 jedes Jahr rund 130.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter verlieren wird.
Experten zufolge könnte dieses Problem durch eine höhere Zuwanderung, bessere Kinderbetreuungsangebote zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Eltern und flexiblere Arbeitszeitmodelle, um ältere Menschen so lange wie möglich im Erwerbsleben zu halten, entschärft werden.