Die Filyos-Gasaufbereitungsanlage in Zonguldak. / Photo: AA (AA)
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Türkiye hat das Erdgas aus dem türkischen Kontinentalschelf im Schwarzen Meer am 20. April feierlich in Betrieb genommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan weihte das Verarbeitungszentrum in Filyos in der türkischen Stadt Zonguldak mit einer Zeremonie ein. Zuvor hatte das Gas am 18. April erstmals das Filyos-Zentrum erreicht. „Sobald wir die volle Kapazität erreicht haben, werden wir 30 Prozent unseres jährlichen Verbrauchs von diesem Gas decken können“, sagte Erdoğan in seiner Rede in Filyos. Zudem kündigte er zwei „frohe Botschaften“ an: Für Warmwasser und den Gebrauch in der Küche werde man je Haushalt monatlich 25 Kubikmeter Gas ein Jahr lang kostenlos zur Verfügung stellen. Außerdem werde man unabhängig davon ein Monat lang keine Gebühren für jeglichen Gebrauch von Erdgas in Haushalten erheben.

Türkisches Schwarzmeergas: Bisher 710 Milliarden Kubikmeter entdeckt

Seit August 2020 haben türkische Schiffe im Sakarya-Feld im Schwarzen Meer bei verschiedenen Bohrungen insgesamt 710 Milliarden Kubikmeter Gas entdeckt. In dem Gebiet operieren neben den Bohrschiffen Fatih, Yavuz und Kanuni rund 50 Unterstützungsschiffe. Präsident Erdoğan zufolge liegt der Marktwert des Gases bei etwa einer Trillion Dollar. Nun soll dieses Gas in türkischen Haushalten zum Einsatz kommen. Und das schon sehr bald: Geplant ist eine Einspeisung in das nationale Netz ab der ersten Mai-Hälfte. Zuvor soll das Gas jedoch im Verarbeitungszentrum in Filyos von Wasser sowie möglichen Fremdstoffen gereinigt werden.

Abbau und Produktion des Gases werden in mehreren Phasen ablaufen. In der ersten Phase sollen zunächst fünf von zehn Bohrlöchern im Sakarya-Feld nach der Einweihung des Verarbeitungszentrums in Betrieb genommen werden. Die restlichen fünf sollen Ende September hinzukommen. Die zweite Phase der Produktion soll 2026 beginnen. 2028 schließlich soll mit der Inbetriebnahme des Amasra-Felds die dritte Phase beginnen. Die tägliche Produktion soll nach mehreren Phasen auf bis zu 60 Millionen Kubikmeter steigen. Allein in der zweiten Phase wird das von Türkiye heimisch produzierte Schwarzmeergas alle Haushalte im Land versorgen.

Schwarzmeergas: Türkiye profitiert wirtschaftlich, strategisch und politisch

Die wirtschaftlichen, politischen und strategischen Gewinne der Erdgasentdeckungen im Schwarzen Meer greifen dabei ineinander. Denn die verschiedenen Vorteile können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Die großen Entdeckungen stellen für Türkiye einen großen Sprung in Richtung Energieunabhängigkeit dar, was zugleich allen anderen Vorteilen übergeordnet ist. Denn ein überwiegender Anteil der restlichen Vorteile entspringt dieser Tatsache. Die Gasentdeckungen und somit die größere Unabhängigkeit entlasten Türkiye finanziell. Aktuell ist das Land bei der Gasversorgung fast vollständig vom Ausland abhängig, was jährlich große Ausgaben für Energie bedeutet. Pro Jahr zahlt Türkiye rund 12,5 Milliarden Dollar für die Beschaffung von Erdgas. Dank der Entdeckungen im Schwarzen Meer wird eine Reduzierung dieses Betrags um die Hälfte erwartet. Schon bei der ersten Phase der Produktion tippen Experten darauf, dass das Schwarzmeergas einen reinen Beitrag von 35 Milliarden Türkische Lira für die Wirtschaft leisten wird.

Das Gas verschafft Türkiye außerdem eine stärkere Verhandlungsposition bei zukünftigen Vertragsaushandlungen mit ausländischen Versorgern. Die Erdgasentdeckungen im Schwarzen Meer werden bei neuen Verhandlungen gewissermaßen als Ass im Ärmel dienen. Angesichts der Erfolge bei der Suche nach Gasvorkommen wird Türkiye selbstsicherer als bisher am Verhandlungstisch sitzen. Als ein Land, das bei der Erdgasversorgung nun weniger auf das Ausland angewiesen ist und ein Teil des Verbrauchs bereits selber deckt, kann Türkiye so den finalen Preis im Vertrag besser beeinflussen und im Idealfall günstiger einkaufen. Somit wird das Schwarzmeergas nicht nur direkt, sondern auch indirekt positive wirtschaftliche Effekte zeigen.

Das Schwarzmeergas wird Türkiye in ein Land transformieren, das bei Energie nun nicht mehr nur als Transitland dient, sondern sich selbst versorgen und das überschüssige Gas schließlich auch exportieren kann. Das wird Türkiye zu einem relevanteren und wichtigeren Akteur bei Energiefragen machen, wobei das vollständige Potential noch gar nicht ausgeschöpft wurde. Jede weitere Entdeckung von Gas wird die türkische Rolle bei der Energieversorgung zusätzlich stärken. Die Balkanländer, die bisher aus Russland einkauften, könnten ihr Gas nun aus Türkiye beziehen. Die Entdeckung repräsentiert außerdem auch die Überwindung einer Art psychischen und künstlichen Barriere, die Türkiye den Weg im Energiesektor versperrte. Lange Zeit herrschte die unzutreffende Vorstellung, in türkischen Gewässern gäbe es keine Erdgasvorkommen bzw. der Abbau des existierenden Gases würde sich finanziell nicht lohnen. Die riesige Menge von 710 Milliarden Kubikmetern Gas, dessen Wert und die zusätzlichen finanziellen sowie politischen Vorteile zeigen, wie realitätsfern das bisherige Narrativ war. Das Schwarzmeergas stellt hier eine entscheidende Wende für die türkische Selbstwahrnehmung dar.

Türkisches Schwarzmeergas: Riesiger Schritt in Richtung Energieunabhängigkeit

Besonders die politische Perspektive der Energieunabhängigkeit darf keineswegs außen vor gelassen werden. Gerade der Ukraine-Konflikt hat gezeigt, welch wichtige Stellung Energiefragen bei bilateralen Beziehungen zwischen Staaten haben. Europäische Länder, die ihren Gasbedarf bislang immer aus Russland gedeckt haben, mussten sich fieberhaft auf die Suche nach alternativen Versorgern und Energiequellen machen. Russland nutzt Gaslieferungen als Druckmittel gegenüber europäische Länder. Auch mehr als ein Jahr nach dem Beginn des Konflikts in der Ukraine dauern die Energiediskussionen in Europa an, zum Beispiel mit hitzigen Diskussionen um Wärmepumpen, die als alternative Energiequelle dienen sollen. Die Abhängigkeit von Russland bei Erdöl- und Erdgas hat vor allem Deutschland in eine schwierige Lage gebracht und eine hitzige Debatte ausgelöst. Aus Politik- und Fachkreisen heißt es immer wieder, die zu große Abhängigkeit sei ein Fehler gewesen.

Das zeigt, welche große Bedeutung die Energieunabhängigkeit für souveräne Staaten hat. Türkiye hat sich in der Verteidigungsindustrie weitgehend unabhängig vom Ausland gemacht. Das hat die sicherheitspolitische Situation Ankaras erheblich verbessert und den Aktivitäten der türkischen Streitkräfte den Rücken gestärkt. Die großen Erdgasentdeckungen im Schwarzen Meer stellen nun eine weitere Facette dar. Sie sind der nächste Schritt der Unabhängigkeit. So, wie es in der Verteidigungsindustrie gelungen ist, wird sich Türkiye auch im Energiebereich Schritt für Schritt unabhängiger machen. Das wird das Land finanziell entlasten und es zugleich weniger anfällig für jegliche Versuche zur Einflussnahme aus dem Ausland machen, indem eine entscheidende Schwachstelle nach und nach beseitigt wird.

TRT Deutsch