Die Staatsschützer der Polizei müssten prüfen, „ob wir die Zahl der Eingestuften erhöhen müssen, wovon wir ausgehen“, hat der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, am Mittwoch beim Europäischen Polizeikongress in Berlin erklärt. Damit dürfte die Zahl der rechtsextremistischen „Gefährder“ in Deutschland deutlich höher sein als bislang bekannt.
„Wir müssen stärker schauen, ob wir alle Personen wirklich kennen.“ Als leidvolles Beispiel für ein Ermittlungsverfahren, das weiße Flecken auf der Karte aufgezeigt habe, nannte der BKA-Präsident den Fall des rechtsextremen Bundeswehrsoldaten, der sich als syrischer Flüchtling ausgegeben hatte. Über Chats, an denen sich Franco A. beteiligte, stießen die Ermittler später unter anderem auf eine Gruppe von rechten „Preppern“ in Mecklenburg-Vorpommern. Dieser „Nordkreuz“-Gruppe gehörte auch ein ehemaliger Elite-Polizist an. „Prepper“ sind Menschen, die sich auf den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung vorbereiten.
Von 2012 bis 2020: Gefährder-Zahl steigt von 22 auf 53
Aktuell stuft die Polizei 53 der bundesweit rund 12 700 gewaltbereiten Rechtsextremisten als Gefährder ein. Ende 2012 hatte sie nur 22 rechte Gefährder auf dem Schirm.
Als Gefährder bezeichnet die Polizei im Bereich der politisch motivierten Kriminalität Menschen, denen sie schwere Gewalttaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut.
Wie hoch das Risiko ist, das von jedem einzelnen der rechten Gefährder ausgeht, soll in Zukunft mit einem neu zu entwickelnden System eingeschätzt werden.
Fokus auf Islamisten - Rechte Gefahr bislang vernachlässigt
Besonders pikant in diesem Zusammenhang ist, dass die Polizei für die aktuell „670 islamistischen Gefährder“ bereits ein solches System unter dem Namen „Radar iTE“ habe, das bei der Auswahl der angemessenen Polizeimaßnahmen hilft. Für die Beurteilung von rechtsextremistischen Gefährdern trotz der erheblichen Zahl von 12700 gewaltbereiten Rechtsextremisten soll ein entsprechender Mechanismus erst Ende 2021 vorliegen.
Laut dem „Tagesspiegel“ gab Münch selbst Mängel beim Vorgehen gegen den Rechtsextremismus zu. Eigenen Angaben zufolge ist „der Wirkungsgrad“ beim Kampf gegen rechte Kriminalität noch nicht erreicht wie im Vergleich bei der Bekämpfung sogenannter islamistischer Straftaten. Bundesinnenminister Horst Seehofer kommentierte dazu am Dienstag beim Polizeikongress, dass „möglicherweise die Politik zu spät konsequent gehandelt hat, denn die Blutspur des Rechtsextremismus ist eine sehr lange“.
Um ein solches System zu entwickeln, schauen sich die Entwickler zuerst die Biografien bekannter Rechtsterroristen an und versuchen dann, daraus Vorhersagen abzuleiten. Allerdings haben gerade die beiden rechtsterroristischen Anschläge in Hessen und Sachsen-Anhalt 2019 gezeigt, dass es keine Schablone gibt, die für alle potenziellen Täter passt.
Stephan E., der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, gehörte als junger Mann zur Neonazi-Szene, hat dann aber wohl mehrere Jahre lang nicht mehr an Gewalt-Aktionen teilgenommen. Stephan B., der in Halle nach einem gescheiterten Angriff auf eine voll besetzte Synagoge zwei Menschen erschossen hat, war dagegen fast ausschließlich in der digitalen Welt vernetzt - und zwar international.
Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten seit 2014 deutlich angestiegen
Das BKA interessiert sich inzwischen auch für anonyme Internet-Foren und Gaming-Plattformen, in denen rechtsextreme Inhalte geteilt werden. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul glaubt aber, dass die Behörden da noch mehr Befugnisse und Kompetenz brauchen. Die rechtsextreme Hetze habe ein erschreckendes Ausmaß angenommen, warnt Reul. Erst teile jemand in sozialen Netzwerken einen radikalen Spruch, dann werde das weiterverbreitet „und dann geht einer raus und schießt einen tot“, so der Innenminister.
Aus Sicht des FDP-Innenpolitikers Benjamin Strasser hat die Regierung zu spät auf die wachsende Gefahr von rechts reagiert. Immerhin gelte: „Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten ist seit 2014 um über 2000 Personen gestiegen.“
Der Handlungsspielraum rechtsextremer Gruppierungen müsse weiter eingeschränkt werden, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, vor den Teilnehmern des Polizeikongresses. Dabei verwies er auf das vor wenigen Tagen ausgesprochene Verbot der Neonazi-Gruppe „Combat 18“, deren Zahlenkombination ein Code für den Namen Adolf Hitler ist. Der Verfassungsschutz hat auch andere Neonazis mit Glatze und Stiefeln laut Haldenwang im Blick, die sich „am Wühltisch des rechtsradikalen bis rechtsextremistischen Gedankenguts“ bedienen. Dazu zählten unter anderem rechte Hooligans, neu-rechte Hipster und selbst ernannte neo-konservative Vordenker.
AfD in rechtsextremen Netzwerken aktiv
Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen beschrieb die Situation in seinem Bundesland so: „Wir haben in der Tat die Schwierigkeit, dass wir sehr starke AfD-Strukturen haben und die AfD selber gezielt, teilweise auch konspirativ, in rechtsextremistischen Netzwerken tätig ist – sie fördert und ausbaut.“
Über die Agitation gegen Flüchtlinge und Migranten sei es rechtsextremen Gruppierungen in den Jahren 2015 und 2016 gelungen, Anschluss an neue Milieus zu finden, die ihnen bislang verschlossen waren, sagte der Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Gordian Meyer-Plath, der am Dienstagabend auf dem Kongress an einer Podiumsdiskussion teilnahm. Diese „Geländegewinne“ machten sich diese Gruppen zunutze, um jetzt auch andere ihrer Themen, etwa die Verehrung von NS-Verbrechern und geschichtsrevisionistische Theorien über den Zweiten Weltkrieg zu verbreiten. Die sogenannte Neue Rechte habe ihrerseits die ökologische Transformation als neues „Angstthema“ entdeckt, stellte der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent fest.