Im Prozess gegen eine ehemalige Sekretärin im KZ Stutthof hat eine 97 Jahre alte Überlebende des Lagers von ständigen Schlägen und Hunger berichtet. Beim Herausgehen aus ihrer Baracke sei sie 1944 täglich geschlagen worden, sagte die Israelin Towa-Magda Rosenbaum am Dienstag über eine Videoschalte vor dem Landgericht Itzehoe. „Ohne Schlag kam man nicht heraus.“ Der ganze Körper habe stundenlang von dem Peitschenschlag einer Blockaufseherin gebrannt. „Die Angst kann man nicht vergessen. Die Angst ist das ganze Leben geblieben, bis zum heutigen Tage“, sagte Rosenbaum auf Deutsch.
Angeklagt ist die 96 Jahre alte Irmgard F., sie soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur des deutschen Konzentrationslagers bei Danzig gearbeitet haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an über 11.000 Gefangenen geleistet zu haben. Weil sei zur Tatzeit erst 18 bis 19 Jahre alt war, findet der Prozess vor einer Jugendkammer statt.
„Immer war der Hunger in unserem Kopf“
Nach drei Monaten in Stutthof sei sie im Oktober 1944 in ein Außenlager nach Thorn (heute Torun) gekommen, sagte Rosenbaum. Dort sei es am schlimmsten gewesen. Sie habe Schützengräben ausheben müssen, eine sehr schwere Arbeit. Von den 3000 weiblichen Gefangenen seien die meisten verhungert. „Immer war der Hunger in unserem Kopf, ob früh oder spät.“ Morgens habe man die Gefangenen links und rechts neben sich angeschaut. Wenn die Läuse den Körper verließen, sei der Mensch tot gewesen. „Wir waren jealous (neidisch) auf die Toten, die brauchten nicht aufzustehen.“ Bei der Befreiung im Januar 1945 seien nur noch 900 am Leben gewesen, sagte die aus Ungarn stammende Nebenklägerin. Und viele von diesen seien wenig später an Krankheiten gestorben.
Rosenbaum war nach eigenen Angaben mit ihrer Familie im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert worden. Dort habe der SS-Arzt Josef Mengele sie und ihre Schwester von der Mutter getrennt. „Pass auf Magda auf!“, seien die letzten Worte ihrer Mutter gewesen. Im August 1944 seien sie und ihre Schwester nach Stutthof gekommen. Es fiel der Zeugin schwer, konkrete Daten zu nennen. Sie erinnere sich, dass sie an ihrem 20. Geburtstag in Stutthof ein ungarisches Geburtstagslied gesungen und dabei ein „nicht“ eingefügt habe: „Ich will nicht noch einmal 20 Jahre alt werden.“
„Wir werden Seife sein“
Um den Schlägen der Blockaufseherin zu entgehen, seien andere Gefangene durch ein Fenster der Baracke geklettert. Sie sei dazu aber zu schwach gewesen. Die Blockaufseherin, die nach Angaben von Rosenbaum auch eine Gefangene war, habe geglaubt: „Wenn sie zu uns schlimmer ist, wird sie eher frei sein.“ Rosenbaum fügte hinzu: „Ihr Name war Barbara, aber sie war ein Barbar.“
In Stutthof habe sie auch gehört: „Wir werden Seife sein.“ Das habe sie erst später verstanden. Aus den Körpern von Menschen sei Seife hergestellt worden, sagte die 97-Jährige. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob sie wahrgenommen, gesehen oder gehört habe, dass Menschen in Stutthof verbrannt wurden, sagte Rosenbaum: „Nein, nur gehört.“ Auch von einer Gaskammer habe sie nicht gewusst.
Nach dem Krieg sei sie mit ihrer Schwester nach Ungarn zurückgegangen. Das Haus der Familie sei nach ihrer Deportation bei einem Pogrom zerstört worden. Dennoch hätten sie neu angefangen. Sie habe geheiratet und zwei Kinder bekommen. Weil Ungarn kommunistisch wurde, sei sie mit ihrem Mann und den Kindern nach Palästina (Israel) ausgewandert.
22 Feb. 2022
KZ-Überlebende im Stutthof-Prozess: „Ständige Schläge und Hunger“
Ständiger Hunger, Läuse und immer wieder Schläge: Das sind die Erinnerungen von Towa-Magda Rosenbaum an ihre Gefangenschaft 1944 in Stutthof. Im Prozess gegen eine ehemalige KZ-Sekretärin beschreibt die 97-Jährige, was sie nicht vergessen konnte.
dpa
Ähnliche Nachrichten
Horst Seehofer verbietet Neonazi-Gruppe „Combat 18“
Innenminister Horst Seehofer verbietet die Neonazi-Gruppe „Combat 18“. Über 200 Polizisten durchsuchten acht Wohnungen in sechs Bundesländern. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte: „Der Rechtsstaat zeigt, dass er wehrhaft ist.“
Ehemalige KZ-Sekretärin schweigt vor Gericht – „leugnet Shoah nicht“
Mehr als 76 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes steht eine Ex-KZ-Sekretärin in Schleswig-Holstein vor Gericht. Zum Prozessauftakt tauchte die 96-Jährige ab, nun hört sie schweigend der Anklage zu. Der Schuldnachweis könnte schwierig werden.
Judenhass: Nicht Muslime, sondern Rechte sind die Täter
Laut den jüngsten BKA-Statistiken und dem Rias-Bericht gehen in Deutschland die meisten antisemitischen Straftaten von Rechten aus – und nicht von Muslimen. Das BKA rechnet 94,6 Prozent der judenfeindlichen Straftaten dem Phänomenbereich „rechts“ zu.
NS-Prozess: Flüchtige Stutthof-Angeklagte Irmgard F. (96) aufgegriffen
Am Donnerstag sollte sich Irmgard F. (96) vor dem Landgericht Itzehoe wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen verantworten. Die Angeklagte ist jedoch nicht zum Prozess erschienen. Inzwischen wurde die Flüchtige gefasst.
Selbe Kategorie
Worüber möchten Sie mehr erfahren?
Beliebt
Iran: Rätselhafte Vergiftungswelle beunruhigt die Bevölkerung
Bei einer landesweiten Anschlagswelle im Iran wurden Hunderte Schulmädchen vergiftet. In Regierungskreisen werden Extremisten dahinter vermutet. Eine offizielle Stellungnahme aus Teheran steht aber noch aus. Die Wut und Sorge der Eltern wächst.