„Das ist genau das, was wir nicht noch einmal erleben wollten.“ So kommentierte Brandenburgs Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) kürzlich einen Corona-Ausbruch in einem Pflegeheim mit einem Dutzend Toten. Sätze wie diesen hört man häufig, wenn man mit Wissenschaftlern, Gesundheitsexperten und anderen Fachleuten über das Virusproblem in Alten- und Pflegeheimen spricht. Denn in der Pandemie hat sich längst gezeigt, dass das Virus insbesondere hochbetagte, vorerkrankte Menschen mit voller Wucht trifft, dass es bei ihnen besonders tödlich ist.
Für viele Beobachter sind die Ausbrüche, über die derzeit berichtet wird, daher ein schlimmes Déjà-vu. Es ist auch Ärger herauszuhören: über Fehler, die wieder und wieder passierten und die nach Einschätzung mancher auch weiterhin passieren werden. Die Politik ist nach den jüngsten Fällen aufgeschreckt, in der Debatte geht es um Test- und Impfpflichten. Gerade haben die Gesundheitsminister von Bund und Ländern eine Ausweitung der Testpflicht in Alten- und Pflegeheimen beschlossen. Demnach sollen etwa geimpfte oder genesene Besucher von Heimen zusätzlich zu Tests verpflichtet werden, die aber kostenlos sein sollen. Eine Analyse zu kritischen Punkten und blinden Flecken:
Entwicklung: Ausbrüche treten laut Robert Koch-Institut (RKI) in Alten- und Pflegeheimen wieder zunehmend auf. 1264 Corona-Fälle in dem Kontext verzeichnet das RKI für die Woche bis 31. Oktober. Die Bilanz seit Pandemiebeginn laut dem aktuellen Wochenbericht: 6594 Ausbrüche, mehr als 160 000 Infizierte, fast 24 000 Todesfälle. Eine Grafik im RKI-Wochenbericht zeigt jedoch, dass das Gros der Ansteckungen Ende 2020, Anfang 2021 passierte - im Vergleich zeigt sich zuletzt eine wesentlich flachere Kurve. Nachübermittlungen für die vergangenen Wochen könnten dieses Bild aber noch ändern.
Impfungen: „Die Impfung wirkt, wir haben weniger Fälle als voriges Jahr. Sie erspart vielen Alten den vorzeitigen Tod“, sagte der Amtsarzt von Berlin-Reinickendorf, Patrick Larscheid. In fast jedem Hauptstadt-Bezirk gebe es zwar derzeit Ausbrüche in der Pflege, aber im Unterschied zum Herbst und Winter 2020 erkrankten viele positiv Getestete gar nicht. Trotz der Todesfälle bei Ausbrüchen müsse einem klar sein, dass die Zahlen ohne Impfung noch höher wären und dass der Impfstatus der Toten nicht immer bekannt sei. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommisssion, Thomas Mertens, sagte vor einigen Tagen, man könne auch nicht bei jedem zweifach Geimpften sicher wissen, ob er wirklich geschützt sei, die Impfung wirke nicht bei jedem gleich.
Bewohner: Experten zufolge ist es ein Irrtum zu denken, dass alle Heimbewohner längst geimpft sind. Es gebe dort einige Fluktuation. Viele kämen ungeimpft ins Heim, sagte Larscheid. „Sie waren vorher zu Hause pflegebedürftig, wo sie keiner geimpft hat.“ Manche berichten auch von Fällen, in denen die Kinder der Bewohner dagegen sind.
Inzidenz und Delta: Mit hohen Fallzahlen wird es wahrscheinlicher, dass das Virus auch in Heime eingeschleppt wird. Hinzu kommt die deutlich ansteckendere Delta-Variante. Das RKI teilte auf Anfrage mit: Infektionsschutz und Impfungen in den Einrichtungen hätten erfolgreich Fälle verhindern können, bei hoher Inzidenz in der Bevölkerung komme es aber zu Ausbrüchen. Einen Hauptgrund für die Zunahme der Ausbrüche könne man derzeit aber nicht ableiten.
Risikogruppen: Mehrere besonders gefährdete Gruppen stehen für Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, im Fokus: 900 000 Bewohnerinnen und Bewohner von Altenpflegeeinrichtungen, aber auch rund eine Million Menschen, die von ambulanten Diensten gepflegt werden, sowie etwa 200 000 Menschen im betreuten Wohnen. „Wir haben die Instrumente, um durch die Krise zu kommen“, sagte er mit Blick auf Impfungen, Tests, Schutzmaterial und Wissen über die Virusverbreitung. „Doch diese werden nicht ausreichend genutzt.“ Es fehlten auch aussagekräftige Daten zu wichtigen Aspekten, so dass es kein klares Bild der Lage gebe. „Diese toxische Mischung führt dazu, dass die insgesamt hohe Inzidenz in der Bevölkerung nahezu ungebremst bei den Hochbetagten durchschlägt.“
Nachlassende Immunität nach zwei Impfungen ist für die Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, Jana Schroeder, der Hauptgrund für die Zunahme der Ausbruchszahlen. „Es zeichnet sich immer mehr ab, dass ein vollständiges Impfschema gegen Corona insbesondere bei Älteren aus drei Dosen besteht.“ Auf diesem Weg ließen sich hohe Spiegel an Antikörpern erreichen. Experten machen aber auch deutlich, dass selbst mit dritten Piks aller Voraussicht nach nicht jeder Todesfall zu verhindern ist - es geht schließlich um hochaltrige Menschen, meist mit Vorerkrankungen.
Auffrischimpfungen: Wie viele Pflegeheimbewohner haben die dritte Spritze schon? Dazu lägen keine Angaben vor, hieß es beim RKI. Aus der Statistik geht nur hervor, dass die Auffrischungs-Impfquote bei Menschen über 60 je nach Bundesland sehr stark schwankt und sich bisher meist im einstelligen Prozentbereich bewegt. Insgesamt sind in Deutschland bisher 2,5 Millionen Booster-Impfungen verzeichnet. Diese laufen seit einiger Zeit zum Beispiel auch bei Klinikpersonal.
Ein geimpftes Umfeld gilt als besonders wichtig für einen besseren Schutz vulnerabler Gruppen. Mehrere Experten und Verbände riefen zuletzt Beschäftigte mit Kontakt zu Kranken und Pflegebedürftigen zur Impfung auf. Bisher schwanken die Impfquoten beim Pflegepersonal offenbar stark je nach Einrichtung. Teils gäben die Werte Anlass zur Sorge, sagte der Präsident der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, kürzlich in Berlin. Um beim Beispiel aus Brandenburg zu bleiben: Nur etwa jede zweite Pflegekraft soll dort gegen Corona geimpft gewesen sein. Ein Experte berichtet von „Riesenhäusern“ mit Impfquoten von einem Drittel beim Pflegepersonal - eine offizielle Bestätigung dafür ist aber nicht zu bekommen.
Sehr häufiges - und damit irgendwann nerviges - Testen könnte aus Sicht mancher Fachleute die Impfbereitschaft fördern. „In unseren vier Altenhilfeeinrichtungen liegt die Impfquote beim Personal bei weit über 90 Prozent, wir hatten keinen Corona-Todesfall bisher in der gesamten Pandemie - und das soll auch so bleiben“, sagte Schroeder, die neben Krankenhäusern der Stiftung Mathias-Spital Rheine auch für diese Einrichtungen verantwortlich ist. Ungeimpftes Personal habe jeden Tag vor dem Dienst einen Schnelltest machen müssen. Einrichtungen, die niedrige Impfquoten durchgehen ließen, schnitten sich ins eigene Fleisch. Schroeders persönliche Erfahrung: Gesprächsangebote an Ungeimpfte würden nicht gut angenommen.
Heimbesucher: Einrichtungen verhängten beim Bekanntwerden von Fällen manchmal als ersten Schritt Besuchsverbote - damit werde das Narrativ bedient, dass die Besucher das Problem darstellen, kritisierte Amtsarzt Larscheid. Doch das stimme nicht. Die Gefahr komme nicht von außen, sondern von innen: Impflücken seien das größte Problem und beträfen eher Pflegehelfer und weniger das Fachpersonal.
Auch Geimpfte testen: Mittlerweile sind Forderungen nach möglichst breiten Testungen laut geworden: Um die besonders anfälligen Menschen sicher durch den Winter zu bringen, wären laut Brysch tägliche Schnelltests bei Heimbewohnern, Beschäftigten und Besuchern nötig - auch bei Geimpften, die das Virus ja auch übertragen könnten. „Wir brauchen eine Testpflicht für alle Menschen, die den Fuß über die Schwelle eines Pflegeheims oder eines Krankenhauses setzen“, formuliert es die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele.
Impfpflicht? Das gesellschaftlich umstrittene Thema sei eine politische Entscheidung, betonen viele Wissenschaftler. Es gibt Stimmen, die befürchten, dass die Pflicht noch weiter polarisieren und mehr Pflegekräfte zur Flucht aus dem Beruf verleiten könnte. In der Sache finde er den Schritt von Ländern wie Italien richtig, meint Larscheid. Menschen in Pflegeeinrichtungen seien abhängig von den Pflegenden und darauf angewiesen, nicht unnötig gefährdet zu werden.
Faktor Mensch: Die personellen Voraussetzungen in Alten- und Pflegeheimen und die Fachkompetenz in Hygiene und Infektionsschutz schienen „nicht immer ausreichend zu sein, um die Empfehlungen vollständig umsetzen zu können“, teilte das RKI mit. Als „skandalös“ bezeichnet eine Expertin das Verhalten des Einrichtungsleiters in Brandenburg: Gegen ihn wurde ein Bußgeldverfahren eingeleitet, weil er nach einem positiven Testergebnis das Heim nochmals betreten hatte.
7 Nov. 2021
dpa
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