Nach Bundeswehrabzug: 3394 Ortskräfte aus Afghanistan in Deutschland (dpa)
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Die Bundesregierung sagte nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ihren einheimischen Partnern vor Ort eine schnelle und unbürokratische Hilfe zu. Tausende afghanische Mitarbeiter deutscher Regierungsstellen und Institutionen nahmen die gemachten Versprechen zu ihrem Schutz ernst. Seit die letzten deutschen Soldaten Afghanistan Ende Juni 2021 verlassen haben, fürchten die zurückgelassenen Mitarbeiter um ihr Leben und um das ihrer Familien. Denn sie gelten für die Taliban nach wie vor als Kollaborateure und Verräter. Eine lebensbedrohliche Situation: Ihnen drohen Racheakte, Folter und Verfolgung von Familienangehörigen samt Verwandtschaft und Freunden. Berichte über Gruppenhinrichtungen bereiten große Sorge. Die alte Bundesregierung, allen voran das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium, haben bei der Evakuierung und Hilfe für ehemalige Fahrer, Reinigungskräfte, Sicherheits- und Wachpersonal, Übersetzer, Köche und Informationsbeschaffer (V-Leute und Agenten) schlichtweg versagt.

„Fiasko in unvorstellbarem Ausmaß“

Besonders deutlich wird die Enttäuschung über das mutwillige Versagen der Bundesregierung beim Leiter des „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte“, Marcus Grotian, der den Verantwortlichen ein „Fiasko in unvorstellbarem Ausmaß“ vorwirft. „Wir sind überwältigt und verbittert in einem Maße, das wir nicht in Worte fassen können“, so der Bundeswehroffizier vor der Bundespressekonferenz in Berlin: „Wir sind von der eigenen Regierung moralisch verletzt, und das ist beschämend.“ Die Bundesregierung müsse sich „unterlassene Hilfeleistung“ vorwerfen lassen. Alle anderen Länder hätten alle Ortskräfte gerettet, Deutschland dagegen evakuiere lediglich diejenigen, die man ausgewählt habe. Das sei „verwerflich“, so Grotian. Zudem seien die von der Bundesregierung genannten Zahlen von 2.500 ausreiseberechtigten Afghanen, von denen angeblich 1.900 bereits in Deutschland seien, „mitnichten richtig.“ Grotian kritisiert, dass 70 bis 80 Prozent der Afghanen, die für die Bundeswehr und andere deutsche Organisationen gearbeitet hatten, beim fluchtartigen Abzug ihrem Schicksal überlassen worden seien. Deshalb versucht die private Hilfsinitiative „Kabul Luftbrücke“ weiter, Schutzbedürftige aus Afghanistan nach Deutschland zu holen.

Waren offizielle Hilfszusagen nur Lippenbekenntnisse?

Dabei hatten die anfänglichen Aussagen der deutschen Regierung Anfang Juli 2021 bei vielen Menschen in Afghanistan noch für vage Hoffnungen gesorgt. Der zu der Zeit amtierende Regierungssprecher Steffen Seibert äußerte sich bei einer Pressekonferenz: „Wir werden denen helfen und helfen ihnen schon, die uns geholfen haben. Wir hatten in allen Facetten unseres Einsatzes in Afghanistan die Hilfe engagierter und kompetenter Afghanen und Afghaninnen, die uns zur Seite gestanden haben und ohne die wir unsere Aufgaben dort sicherlich nicht so hätten erfüllen können. Die Bundesregierung kenne „die Verantwortung, die wir für diese Menschen haben.“ Seibert weiter: Da, wo es etwa wegen einer akuten Gefährdung einen dringenden Ausreisewunsch gebe, werde sich die Bundesregierung bemühen, diese Ausreise auch möglich zu machen.

Zusagen wurden nicht eingehalten

Allerdings ist die Realität eine ganz andere. Die sogenannten „Ortskräfte“ fühlen sich weiterhin im Stich gelassen. Bei vielen ist das Vertrauen zu Deutschland dahin. Die ehemaligen Mitarbeiter der deutschen Kräfte in Afghanistan müssen für die Ausstellung ihrer Reiseunterlagen teilweise mehrere Hundert Kilometer in die Hauptstadt nach Kabul fahren und sich dort um ein Flugticket und dessen Bezahlung kümmern. Allerdings können sich viele Afghanen, die einfache oder schlecht bezahlte Tätigkeiten für die Deutschen ausführten, etwa als Köche oder Reinigungskräfte, kein Flugticket nach Deutschland leisten.

So viele Personen wurden bis jetzt gerettet

Nach Angaben der Bundeswehr haben bis August 2021 von 526 Ortskräften, deren Beschäftigung bei der Bundeswehr nicht länger als zwei Jahre zurückliegt und die nach Deutschland wollten, 491 eine Aufnahmezusage bekommen. Zusammen mit Familienangehörigen belaufe sich die Zahl der Schutzsuchenden auf 2.482 Personen. 360 Ortskräfte seien mit 1.485 Familienangehörigen laut Einsatzführungskommando bereits in Deutschland eingetroffen. Weitere 350 Personen befänden sich noch im erweiterten Verfahren. Laut Aussagen von Marcus Grotian vom „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte“ bekamen weit weniger ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr Schutz in Deutschland als zunächst zugesagt. Auch die Zahl der Ausreiseberechtigten sei bei weitem höher als die Angaben des Verteidigungsministeriums. Sein Verein gehe von 8.000 Ausreiseberechtigten aus – mitsamt Kernfamilien. Interessant wäre es zu erfahren, wie sich die Zahlen weiter entwickelt haben. Inzwischen habe die US-Armee etwa 35.000 Schutzbedürftige nach Deutschland ausgeflogen, die Bundeswehr evakuierte mehr als 5.000 Leute. Doch viele ehemalige Ortskräfte warten noch immer auf eine Chance, aus Afghanistan zu fliehen.

Ortskräfte warten weiter auf Ausreise

Die derzeit aktuellsten Daten zur Evakuierung afghanischer Ortskräfte und deren Familienangehörigen erhält man aus der vom 2. Dezember 2021 datierten Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Danach haben deutsche Behörden zwischen dem 15. Mai und dem 26. November 2021 24.556 Menschen aus Afghanistan eine Aufnahme zugesagt. Das betreffe 4.590 Ortskräfte der Bundeswehr und deutscher Ministerien sowie 19.966 Angehörige. Bisher sei lediglich 1.319 Ortskräften mit 5.711 Angehörigen die Flucht nach Deutschland gelungen. „Wie viele Ortskräfte und deren Familienangehörige mit einer Aufnahmezusage Afghanistan mit Hilfe deutscher Stellen verlassen haben, kann nicht beziffert werden“, teilte das Innenministerium in der Antwort mit.

Bis jetzt nur Zuflucht für 30 Prozent der Schutzbedürftigen

Die Urheberin der Anfrage, die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut, die bei den Bundestagswahlen im September 2021 über den zweiten Platz der Landesliste ihrer Partei erneut in den Bundestag einzog, nannte die geringe Zahl der aus Afghanistan geholten Menschen in einer Stellungnahme „ein absolutes Armutszeugnis.“ Menschen würden „in größter Angst und Unsicherheit in Afghanistan ausharren“, denn es gebe kaum Ausreisemöglichkeiten. Mehr als 100 ehemalige Sicherheitskräfte seien bereits von den Taliban exekutiert worden oder verschwunden, so die Politikerin. Sie forderte die neue Bundesregierung auf, die Anerkennungsverfahren sowie die Organisation der Evakuierungen und Einreisen zu beschleunigen und zu vereinfachen. Die von der neuen Koalition versprochenen unbürokratischen Aufnahmeverfahren müssten wirklich Anwendung finden. Die etwa 7.000 ausgereisten Personen aus dem Land am Hindukusch seien „nicht einmal 30 Prozent derjenigen, die dringend Schutz benötigen.“

Bei der Frage um die Evakuierung von Ortskräften geht es um sehr viel: Deutschland hat nicht nur seinen Ruf zu verlieren. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit und darum, ob bei zukünftigen Einsätzen Hilfskräfte vor Ort deutschen Sicherheitsbehörden, Entwicklungshelfern oder Regierungsstellen jemals wieder vertrauen können. Die neue Bundesregierung sollte hier schnell handeln. Denn ihr rennt die Zeit davon. Es geht um Leben und Tod.

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