Als Wahljahr stand 2021 in Deutschland ganz im Fokus der Innenpolitik. So wurde die Wahl von Armin Laschet, bekannt als „Freund der Türken“, zum CDU-Vorsitzenden Anfang des Jahres nicht nur bei den in Deutschland lebenden Türken, sondern auch in bestimmten Kreisen in der Türkei begrüßt. Man erhoffte sich mit Fortführung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl eben wegen des Laschet-Effekts auch eine Harmonisierung der bilateralen Beziehungen.
60-jähriges Jubiläum des Anwerbeabkommens und neue Bundesregierung
Anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens für Arbeitskräfte aus der Türkei fanden 2021 gemeinsame Feierlichkeiten und verschiedene Programme unter Teilnahme türkischer und deutscher Delegationen statt. Doch trotz des langen Zeitraums stimmt es sehr nachdenklich, dass immer noch über die Integration derer, die mit der Arbeitsmigration nach Deutschland kamen, diskutiert wird. Dabei geraten die Debatten manchmal aus dem Ruder und gelangen schnell in den Kontext von Assimilation und Rassismus. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wird der Symbolcharakter des Arbeitsmigrationsabkommens in Bezug auf Integration und Teilhabe explizit unterstrichen. Auch die Tatsache, dass eine Vizepräsidentin des Bundestags in der neuen Periode türkischer Herkunft ist, wird solche Diskussionen in Zukunft positiv beeinflussen.
Zustrom von Flüchtlingen nach Europa
Der Zustrom von Flüchtlingen aus der Türkei nach Europa erreichte 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt und behält trotz rückläufiger Flüchtlingszahlen seine Brisanz bei. Um den Flüchtlingszustrom zu stoppen, wurde 2016 mit dem „Rückübernahmeabkommen“ zwischen der Europäischen Union und der Türkei eine Regelung etabliert, die zwar die Zahlen eingedämmt hat, aber aufgrund der Probleme in der Praxis für beide Seiten den erhofften Erfolg nicht sichern konnte. Die Entwicklungen in der geographischen Nachbarschaft der Türkei und die inneren Unruhen in diesen Regionen halten mit dem damit verbundenen Zustrom von Flüchtlingen in die Türkei das Thema auf der Tagesordnung. Dass die Mehrheit dieser Flüchtlinge die Türkei nur als Transitland nutzen will, verunsichert jene europäischen Staaten, die Wunschziel dieser Flüchtlinge sind. Der jüngst erfolgte Regimewechsel in Afghanistan hat die Flüchtlingsbewegung aus Afghanistan in den Westen beschleunigt. Nach Schätzungen von Experten sind derzeit mindestens eine halbe Million afghanische Flüchtlinge auf der Flucht, zunächst in die Türkei, aber mit dem eigentlichen Ziel, Europa zu erreichen. Diese Situation hat alle europäischen Staaten, insbesondere Deutschland, alarmiert und zu verstärkten Maßnahmen zum Schutz der Außengrenzen geführt.
Die Türkei wird in der Flüchtlingsfrage alleingelassen
Auch wenn vordergründig die Schutzmaßnahmen bei der Pandemiebekämpfung als Begründung dienten, hat die Schließung aller Außengrenzen der Europäischen Union eine Situation geschaffen, die sich insbesondere gegen Flüchtlinge richtet. In der Folge muss die Türkei mit den über 4,5 Millionen Flüchtlingen im eigenen Land alleine fertig werden. Ungefähr 3,8 Millionen dieser Flüchtlinge sind in der Türkei lebende Syrer mit vorübergehendem Aufenthaltsstatus. Und obwohl bekannt ist, dass viele dieser Flüchtlinge einen Asyl-Antrag in einem der EU-Staaten, insbesondere Deutschland, stellen möchten, gibt man ihnen diese Möglichkeit nicht. So schottet die EU praktisch ihre Grenzen ab, behandelt die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen menschenrechtswidrig und macht dann noch der Türkei Vorwürfe, was für die türkisch-europäischen Beziehungen nicht akzeptabel ist. Die Tatsache, dass die internationale Flüchtlingskonvention praktisch keine Anwendung mehr findet, wird wohl eines der am meisten diskutierten Themen des neuen Jahres sein, sowohl in Bezug auf die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, als auch in den denen zwischen der Türkei und der EU.
Türkei als aktiver Akteur in der Außenpolitik
Die Entwicklungen in der Region und bei den unmittelbaren Nachbarn der Türkei haben es erforderlich gemacht, dass die Türkei gezwungenermaßen eine aktive Rolle in der Außenpolitik übernimmt und von Zeit zu Zeit bei Krisen Initiative ergreift. Außenpolitisch hat die Türkei in den letzten 10 Jahren bei der Bewältigung von Krisen in ihrer Region gehandelt, um die Interessen des eigenen Landes zu wahren. Um dieses Ziel zu gewährleisten, scheut sie sich nicht, von Zeit zu Zeit mit den Großmächten außenpolitisch aneinanderzugeraten. Dies tritt auch in den Beziehungen zu Deutschland und der EU zu Tage. Wenn dabei die außenpolitischen Schritte der Türkei den allgemeinen Interessen Berlins oder Brüssels zuwiderliefen, löste dies teils heftige Reaktionen aus. Diese Situation scheint sich im letzten Jahr jedoch entspannt zu haben, und die aktive Rolle der Türkei in der Außenpolitik wird sowohl in Berlin als auch in Brüssel akzeptiert.
Diese sich wandelnde Rolle der Türkei zwingt Berlin und Brüssel zunehmend, der Türkei als Gesprächspartner auf Augenhöhe zu begegnen. Folgerichtig wurde unter dem Dach der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, eine der maßgeblichen Thinktanks der deutschen Außenpolitik, das „Zentrum für angewandte Türkeistudien“ gegründet, mit wichtigen Analysten wie etwa Günther Seuffert. Ziel dieses Zentrums ist es, die Verbindungen zwischen europäischen und türkischen Partnern in der Türkeiforschung zu stärken und einen gemeinsamen Rahmen für die Diskussion über die künftigen Beziehungen der Europäischen Union zur Türkei zu schaffen. Diese Entwicklung ist für die gegenwärtigen bilateralen Beziehungen und die zukünftige Gestaltung der Politik der involvierten Staaten von großer Bedeutung. Auf deutscher Seite können sich jedoch Vorurteile aus der Vergangenheit und eine tendenziell negative Haltung gegenüber der Türkei negativ auf den hier erwarteten Nutzen auswirken.
PKK-Propaganda in Deutschland
In den Beziehungen zwischen den beiden Staaten gilt der Umgang mit der Terrororganisation PKK als wichtigstes Thema, das die Innenpolitik beider Länder und ihre gegenseitige Politik betrifft. Es ist eine Wunde, die bildlich gesprochen bei jeder Berührung blutet. Die Aktivitäten der Terrororganisation PKK und ihrer Tarnorganisationen sind in Deutschland seit 1993 verboten. Trotz dieses Verbots gelingt es der Terrororganisation, in Deutschland politische Aktivitäten zu entfalten. Sie kann Propaganda betreiben, Spenden sammeln, um die Organisation finanziell zu unterstützen, und vor allem Mitglieder für ihre Terrorkader rekrutieren. Die jährlich veröffentlichten Verfassungsschutzberichte bestätigen diese Informationen. Obwohl die Aktivitäten terroristischer Vereinigungen in Deutschland theoretisch verboten sind, wird mit dem laxen Umgang die Existenz der PKK quasi toleriert. Dies wird von Zeit zu Zeit sogar als Druckfaktor in den Beziehungen gegen die Türkei genutzt. Die Türkei wird nicht müde zu betonen, dass die Tolerierung dieser Terrororganisation auch die innere Sicherheit Deutschlands bedroht. Im Hinblick auf die Zukunft der Beziehungen sollte Deutschland seine Haltung gegenüber der PKK auf den Prüfstand stellen und die Aktivitäten der Terrororganisation in Deutschland nicht länger ignorieren.
Neue Regierung hat noch keine Türkei-Perspektive
Die im Dezember gebildete neue Regierung beklagt im Koalitionsvertrag einen Rückschritt im Bereich der Menschenrechte in der Türkei. Eine Perspektive auf die Zukunft der Beziehungen zur Türkei wird nicht aufgezeigt. Diese Ausgangslage ist auch dem oben bereits erwähnten voreingenommenen und pauschalisierenden Ansatz geschuldet. Aus diesem Grund sollte sich vor allem die türkische Seite klarer und transparenter beim Aufbau der Beziehungen zur neuen Bundesregierung positionieren. Es sollte ein Ansatz sein, der Vorurteile abbaut und dafür plädiert, Beziehungen auf Augenhöhe zu pflegen.
Betrachtet man die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, so ist Deutschland aus Sicht der Türkei mit einem Handelsvolumen von knapp 38 Milliarden Euro der wichtigste Partner im Außenhandel, und umgekehrt rangiert die Türkei für Deutschland auf Platz fünfzehn seiner Handelspartner. Neben Spanien und Italien gehört die Türkei zu den wichtigsten Reisedestinationen des Landes. Dabei entwickeln sich die Wirtschaftsbeziehungen mit der ihr eigenen Dynamik teils unabhängig vom aktuellen Stand der außenpolitischen Beziehungen. Die Zunahme von Reibungspunkten in der Außenpolitik birgt aber auch die Gefahr, dass sich diese möglicherweise auf die Wirtschaftsbeziehungen auswirken.
Die Türkei und Deutschland sind historisch miteinander verbundene Staaten. Allein die Existenz von dreieinhalb Millionen in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern und türkischstämmigen Menschen verbindet beide Staaten mit einem untrennbaren Band. Manchmal verliert die deutsche Seite diesen wichtigen Faktor bei der Feinjustierung der Beziehungen aus den Augen. Auf türkischer Seite hingegen wird von Zeit zu Zeit der mögliche positive Beitrag unserer in Deutschland lebenden Menschen zu den Beziehungen außer Acht gelassen. Deutschland priorisiert in den Beziehungen noch immer eine überlegene Haltung, gestützt auf Vorurteile aus der Vergangenheit und einen pauschalisierenden Ansatz. Obwohl diese Haltung während der Ära Merkel etwas abgeschwächt wurde, lässt sich immer noch schwer sagen, ob Deutschland bereit ist, in seinen Beziehungen zur Türkei auf Augenhöhe zu agieren.