Der 15. Juli 2016 trägt eine doppelte Bedeutung für die Türkei, die hätte gegensätzlicher nicht sein können: Auf der einen Seite steht das Datum für die Souveränität und den Zusammenhalt des türkischen Volkes. Der Tag markiert die Verteidigung des zivilgesellschaftlichen Selbstbestimmungsrechts, die Wahrung von Freiheit und Demokratie. Zugleich gilt der 15. Juli als ein Entgegentreten gegen jegliche Demokratiefeinde und Verfechter von Gewalt und Terror. Der Tag steht für eine buchstäbliche Aufopferung gegen Verfassungsfeinde und für den Fortbestand der konstitutionellen Ordnung sowie die Unabhängigkeit des türkischen Staates. Seit dem Putschversuch 2016 ist der 15. Juli, der „Tag der Demokratie und nationalen Einheit“, in der Türkei ein Gedenk- und Feiertag.
Auf der anderen Seite gelten die Ereignisse, die am Abend des 15. Juli begannen, als eine harte Prüfung der Demokratie in der Geschichte der Türkei. An dem Tag plante eine illegale Splittergruppe von Putschisten außerhalb der regulären Befehlskette des Militärs, durch Machtübernahme die türkische Regierung zu stürzen und den Präsidenten zu ermorden. Die Auswirkungen dieses Plans waren erschreckend: Die Putschisten setzten Panzer, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge ein, bombardierten das Parlament, mehrere Regierungsgebäude und den Sitz des Präsidenten. Auch das Hauptquartier einer Polizei-Spezialeinheit in Ankara-Gölbaşı wurde gezielt angegriffen - 51 Beamte kamen dabei ums Leben. Doch damit nicht genug: Weitere Verbrechen an der Zivilbevölkerung, insbesondere in Ankara und Istanbul, folgten. 286 Menschen wurden getötet, davon 35 Putschisten. Es gab über 2000 Verletzte, von denen ein Großteil heute noch auf eine medizinische Versorgung angewiesen ist. Der Putschversuch wurde dank der verfassungstreuen Streitkräfte innerhalb des Militärs und des Widerstands der Bevölkerung vereitelt, die Bilanz der blutigen Nacht war jedoch groß.
Erinnerung wachhalten
Die Erinnerung an diesen Tag wachzuhalten und den Opfern zu gedenken ist nicht nur eine Mahnung an künftige Generationen, sondern auch eine besondere Verantwortung, die man nicht zuletzt den Angehörigen der Opfer schuldet.
Heute erinnern zwei Museen in Istanbul und Ankara an die Nacht des Coupversuchs. Sie halten das Gedenken an die erschütternden Ereignisse und vor allem an die Opfer des 15. Juli 2016 aufrecht. Neben privaten Materialien wie Kleidungsstücke und Schuhe werden in den Museen auch von den Putschisten zerstörte Objekte wie PKW oder Mopeds ausgestellt. Zudem werden Ausrüstungsgegenstände der von den Putschisten getöteten Polizisten und Soldaten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Besucher können sich des Weiteren über Videos, Animationen und Fotoausstellungen über die Nacht des 15. Juli informieren.
Ein Rückblick: Staatsstreiche in der Türkei
Seit der Republikgründung wurde der Weg der Türkei in eine Demokratie nach westlichen Maßstäben immer wieder – mit nachweislicher Unterstützung aus dem Ausland – durch Putsche und Umsturzversuche behindert. Jedes Mal, wenn das Volk nach dem Ende der Einparteiendiktatur 1947 eine Regierung in der Türkei wählte, die den Interessen der antidemokratischen Eliten und deren ausländischen Kooperationspartnern konträr stand, gab es einen Coup im Land. 1960 wurde der beliebte und zunehmend US-kritische Ministerpräsident Adnan Menderes, der sich an die Sowjetunion annäherte, von Teilen des Militärs gestürzt und kurz darauf gehängt. Hingerichtet wurde dabei nicht nur Menderes selbst, sondern auch die Volkssouveränität. 1970 gab es einen erneuten Staatsstreich – wieder ausgeübt von einem Teil der Generalität. 1980 putschten diese ein drittes Mal.
Besonders nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind sich viele türkische Sicherheits- und Politikanalysten zumindest in einem Punkt weitgehend einig: An allen militärischen Umstürzen in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 sowie beim Putschversuch vom 15. Juli - seien auch Kräfte innerhalb der NATO und der CIA mit involviert gewesen.
Putsch als letztes Mittel
Manche Beobachter zählen auch den mysteriösen Tod des ehemaligen Premierministers und späteren Staatspräsident Turgut Özal zu der Putsch-Serie. Özal verfolgte geopolitische Ziele, die nicht nur der NATO missfielen. Er wurde zwar nicht vom Militär gestürzt, verstarb aber 1993 ganz plötzlich und unerwartet. Vor einiger Zeit wurden die sterblichen Überreste Özals nochmals eingehend untersucht. Den neuesten Erkenntnissen nach wurde Özal vergiftet. Zuletzt war 1997 der demokratisch gewählte Ministerpräsident Necmettin Erbakan von Teilen des Militärs zum Rücktritt gezwungen worden. Experten sprachen damals von einem „kalten Putsch“.
Langfristig betrachtet scheint die Angewohnheit, die gewählten Regierungen souveräner Staaten zu stürzen, Kontinuität zu besitzen. Interessensgruppen, die um ihren Nutzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bangen, schrecken scheinbar nicht davor zurück, Terror, Willkür und Waffengewalt als letztes und legitimes Mittel einzusetzen. Und das nicht nur in der Türkei. Da sich die Putschisten zum Teil auch auf Rückendeckung aus dem Ausland verlassen können, missfällt ihnen diese demokratiefeindliche Methode kaum.
Es mag sich zynisch anhören: Diese bizarre Vorgehensweise besitzt sogar fast traditionelle Züge. Denn der 15. Juli 2016 war nicht der erste Versuch, Präsident Erdoğan aus dem Amt zu drängen. Davor wurde die Regierung bereits mehrmals mit alternativen Mitteln attackiert: 2007 veröffentlichte die türkische Militärführung unter Generalstabschef Yaşar Büyükanıt ein E-Memorandum auf ihrer Internetseite. Die als Coupdrohung verfasste Schrift wollte die Wahl Güls zum Staatspräsidenten verhindern, da dies der Armeeführung ideologisch nicht passte. Der damalige Ministerpräsident Erdoğan wehrte sich gegen diese Einmischung und rief überraschend Neuwahlen aus, aus denen er letztlich gestärkt hervorging.
Ein anderes Beispiel war der Abschuss eines türkischen Militärflugzeugs über Syrien im Jahre 2012. Die Intention damals bestand nach Meinungen von Sicherheitsexperten darin, die Türkei in den Syrien-Krieg hineinzuziehen. Der gewünschte Erfolg blieb jedoch aus. Dem folgten die Gezi-Proteste vom Sommer 2013. Dieses Ereignis wird ebenfalls von vielen Beobachtern in der Türkei als ein Putschversuch gedeutet. Die sogenannten Korruptionsermittlungen im Dezember 2013 gegen Funktionäre der AK-Partei werden als ein weiterer Versuch verstanden, Erdoğan zu stürzen. Auffallend war darüber hinaus in den letzten Jahren die unermüdliche, dauerhafte und tatkräftige internationale Unterstützung von politischen Rivalen Erdoğans und oppositionellen Kräften in allen türkischen Wahlkämpfen. Hatten sie das Ziel, Erdoğan abzulösen?
Wiederholt berichten Insider davon, dass der Abschuss eines russischen Kampffliegers Ende 2015 oder das Attentat auf den russischen Botschafter Andrei Karlow Ende 2016 in Ankara gleicherweise auf die Urheberschaft von Teilen der am Putschversuch vom 15. Juli beteiligten Einheiten gehe. Damit sollte die Türkei vollständig isoliert, mit Russland verfeindet und international unter Druck gesetzt werden. Weiterhin stimmen Analysten darin überein, dass die Terrororganisation PKK und die mit ihr organisch verbundenen Gruppen wie YPG, PYD, YPJ und KCK gleichfalls Vehikel seien, um die Türkei zu destabilisieren. Ebenso die Gülen-Sekte, die für den Coup vom 15. Juli verantwortlich gemacht wird. Erdoğan habe es allerdings immer wieder geschafft, alle destruktiven Angriffe abzuwehren, sodass seine Gegner nur noch eine Möglichkeit gesehen hätten: Den Griff zur Waffe und einen gewaltsamen Putsch.
Umgang mit Gülenisten belastet bilaterale Beziehungen
Das türkische Justizministerium hat in der Zwischenzeit einen formalen Antrag an die USA auf die Auslieferung von Fetullah Gülen gestellt, der als mutmaßlicher Anführer und Drahtzieher des vereitelten Militärputsches gilt. Seine Anhänger hatten jahrelang staatliche Institutionen – darunter das Militär und Sicherheitskräfte – infiltriert und den Putschversuch möglich gemacht. Daneben fordert die Türkei die Überstellung von geflohenen Gülenisten aus Ländern wie Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union (EU), die den Gülenisten Unterschlupf gewähren. Dass diese nicht ausgeliefert und noch dazu geschützt werden, belastet die bilateralen Beziehungen der Türkei zu diesen Ländern immens. Eine aufrichtige Solidarität mit der Türkei im Kampf gegen Terrororganisationen ist auf europäischem Boden derzeit Mangelware. Partiell ist das Gegenteil der Fall. Ob das zukünftig für die Beziehungen eine Annäherung, Entfernung oder gar ein Abbruch bedeutet? Darauf kann man gespannt sein.