29. Jahrestag des Massakers von Srebrenica / Photo: DPA (dpa)
Folgen

Im Juli 1995 befand sich die Kleinstadt Srebrenica im Osten Bosniens bereits drei Jahre unter Belagerung bosnisch-serbischer Truppen. Von der UN wurde die Enklave als Schutzzone deklariert. Flüchtlinge aus umliegenden Regionen suchten dort Zuflucht. Nachdem bosnisch-serbische Kräfte der sogenannten „Republika Srpska” die Stadt einnahmen, massakrierten sie innerhalb weniger Tage mehr als 8.000 Zivilisten, hauptsächlich muslimische Männer. Die bosnisch-serbischen Truppen hatten Massengräber gegraben, um das Ausmaß des Massakers zu verschleiern. Die in Srebrenica stationierten niederländischen Blauhelm-Truppen intervenierten während der Verbrechen nicht. Ihre Rolle ist umstritten und auch ihnen wird eine Mitschuld vorgeworfen.

Das systematisch geplante und ausgeführte Massaker wird als das schlimmste Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien stufte das Verbrechen als Völkermord ein. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete kürzlich eine Resolution, nach der der 11. Juli jährlich als internationaler Gedenktag für den Genozid deklariert wurde. Die Resolution verurteilt auch die Leugnung des Völkermordes.

Doch genauso wie diese UN-Resolution trifft auch weiterhin die Nutzung des Begriffs „Genozid” auf politischen Widerstand. Die politische Elite in Serbien hat das Verbrechen zwar eingeräumt - doch wird der Begriff „Genozid” als solcher vehement abgelehnt und dadurch auch implizit eine Leugnung begangen. Auch fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges regieren ultra-nationalistische Kräfte in der „Republika Srpska” und in der Region. Ein Weg zur eventuellen Versöhnung ist unmöglich, während der Völkermord geleugnet und teilweise auch verherrlicht wird. Auch heute noch ist Bosnien und Herzegowina politisch gespalten und institutionell paralysiert.

Dabei geht es in diesem Diskurs nicht nur um Srebrenica. Das Verbrechen von Srebrenica sticht hervor als eine Instanz des Völkermordes - doch war dieses Verbrechen kein isolierter Einzelfall. Der gesamte Krieg in Bosnien und Herzegowina war durch ethnische Säuberung charakterisiert. Massaker und Konzentrationslager prägten viele Teile Bosniens. Schätzungen zufolge wurden mehr als 100.000 Menschen getötet. Mehr als zwei Millionen wurden zu Flüchtlingen.

Heuchelei des kollektiven Westens

Neben der andauernden Verharmlosung und Leugnung des Genozids von offizieller serbischer Seite ist auch die internationale Kommemoration dieses Verbrechens nicht unumstritten. Westliche Mächte, die im Krieg in Bosnien nicht nur versagt haben, sondern auch selbst geopolitische und wirtschaftliche Agenden auf dem Balkan verfolgen, erkennen den Genozid an und fördern aktiv die Gedenkkultur und Erinnerung an die Opfer. So haben vor langer Zeit sowohl die EU als auch die USA entsprechende Resolutionen mit überwältigenden Mehrheiten verabschiedet. Doch wie weit kann man solche Bekenntnisse ernst nehmen, wenn diese gleichen Mächte weiterhin in ähnliche Gräueltaten verwickelt sind.

Die von den USA und der EU unterstützte israelische Regierung führt in Gaza seit nun mehr als neun Monaten einen brutalen Krieg gegen die Bevölkerung, der laut Experten und Beobachtern als Genozid eingestuft werden kann. Auch die „Republika Srpska“ unter Führung von Milorad Dodik, der den Völkermord in Srebrenica weiterhin leugnet, hat der israelischen Regierung Unterstützung in diesem Krieg ausgesprochen.

Laut neuesten Einschätzungen wird möglicherweise von mehr als 180.000 palästinensischen Opfern in Gaza ausgegangen. Die gleichen westlichen Regierungen und Organisationen, die ihr Entsetzen über Srebrenica und ihre Solidarität mit den Opfern bekunden, ermöglichen weiterhin die apokalyptischen Verbrechen in Gaza oder schauen passiv zu.

Offensichtlich wurden keine aufrichtigen Lehren aus dem Genozid gezogen. Weiterhin baut sich die westliche, eurozentrische Sicht auf die Welt auf rassistische Perspektiven auf, die Hierarchien von Opfern kreieren, in denen nur gewissen Menschen selektiv die Würde zum Leben zugesprochen wird. Europas Kolonialgeschichte und moderne Identität basieren auf solchen rassistischen Kategorien.

Völkermord findet auch heute statt

Die kürzlich verabschiedete UN-Resolution wurde von Rwanda und interessanterweise auch von Deutschland initiiert. Gleichzeitig tut sich Deutschland weiterhin schwer, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und Konsequenzen zu ziehen. Es hat ein ganzes Jahrhundert gedauert, bis Deutschland seinen Völkermord in Namibia anerkannte. Deutschlands zentrale Rolle im andauernden Genozid in Gaza durch Unterstützung für das israelische Regime ist ein weiteres Beispiel für die heutige Normalisierung von Kriegsverbrechen.

Die einem Völkermord unterliegende Entmenschlichung der Opfer ist im täglichen politischen und Mediendiskurs sichtbar. Opfer werden als von blindem Hass getriebene Extremisten, als Terroristen, als eine Bedrohung dargestellt, während Tätern mit Rechtfertigungen und Empathie begegnet wird.

Deutschlands Position verdeutlicht, dass es möglich ist, sich als moralische Autorität zu präsentieren und gewisse Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen und gleichzeitig andere Verbrechen hinzunehmen und gar zu rechtfertigen.

Die jährliche Andacht an Srebrenica, in einer zunehmend instabilen Welt, verdeutlicht diese verschiedenen Kontroversen. Völkermord ist auch heute, im Juli 2024, ein Kriegsmittel und wird von den Mächten unterstützt, die im Fall von Srebrenica vorgeben, der Opfer zu gedenken. Geprägt von rassistischer Überlegenheit hat der kollektive Westen moralisch nochmals versagt.


Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com