27.09.2021, Großbritannien, Manchester: Ein Schild an einer Tankstelle verweist auf eine kommende Lieferung. Nach Angaben des Branchenverbands Petrol Retailers Association, der rund 5500 unabhängige Tankstellen vertritt, haben zwei Drittel der Mitglieder keinen Kraftstoff mehr. (dpa)
Folgen

Versorgungsengpässe sind in vielen Bereichen des täglichen Lebens zu spüren

In Großbritannien sind Bilder von geschlossenen Tankstellen oder Warteschlangen vor den spärlich geöffneten Tankstellen zur täglichen Routine geworden. Autofahrer strömten zu den Stationen, nachdem BP angekündigt hatte, einige zu schließen, da es im Land nicht genügend LKW-Fahrer gibt. Zudem führten Störungen in den Lieferketten dazu, dass die Regale für Produkte wie Eier, Milch und Fleisch in Supermärkten leer standen.

Die Supermarktkette Tesco warnte ihre Kunden vor Panikkäufen vor Weihnachten. Darüber hinaus teilte der Einzelhandelsgigant den Behörden mit, dass ihm 800 Fahrer fehlen. Selbst an einem normalen Wochentag sieht man Lücken in vielen Regalen der Supermarktkette von Sainsbury im Stadtteil Harringay im Norden Londons. Ob Frischmilch, gekühlte Fertiggerichte oder monatelang lagerfähige Pasta, viele Produkte sind nur begrenzt erhältlich.

Diese Situation zwang einige Filialisten auf der Insel dazu, vorübergehend ihre Läden zu schließen. Die Fast-Food-Kette Nando's gehört zu den Unternehmen, die vorübergehend 45 Filialen schließen mussten, weil Chicken Wings nicht in ausreichender Menge zu kaufen waren. Ebenso informierten Unternehmen wie McDonald's und KFC ihre Kunden, dass einige Produkte aufgrund vorübergehender Lieferprobleme vorerst nicht verfügbar sind.

Welche Rolle spielt der Brexit in der Lieferkettenkrise?

Die anhaltenden Versorgungsprobleme zwingen Unternehmen, Gewerkschaften und Handelskammern dazu, Maßnahmen zu ergreifen. Diesbezüglich mahnte Verkehrsminister Grant Shapps, Autofahrer sollten nur so viel Benzin kaufen, wie sie brauchen, und es seien genügend Vorräte vorhanden. Darüber hinaus mahnte er die Öffentlichkeit zur Zurückhaltung und erklärte, bei Bedarf könnten britische Soldaten mit Treibstofftransportfahrzeugen eingesetzt werden. Alles in allem wird offenbar, dass diese Versorgungsengpässe im Einzelhandel den höchsten Stand seit vierzig Jahren erreicht haben. Auch gegen die EU eingestellte Medien machen inzwischen den Brexit und den daraus resultierenden Arbeitskräftemangel als Hauptgründe für die derzeitigen dramatischen Engpässe verantwortlich. So bestätigen Experten auch, dass die Überwindung dieser Situation länger dauern kann als erwartet.

In einem Brief der Vertreter der Geflügelwirtschaft (BPC) an Innenminister Priti Patel führen diese aus, das für Einwanderung zuständige Ministerium habe gering Qualifizierte für unerwünscht erklärt, doch die Bauern seien auf diese billigen Arbeitskräfte angewiesen, um die Ernährung im Land aufrechtzuerhalten. Sowohl Bauwirtschaft als auch Gastronomie und Obst- und Gemüsebauern sowie Supermärkte leiden seit Jahren unter dem Mangel an billigen Arbeitskräften. Diese Situation verschärfte sich dadurch, dass EU-Bürger mit der Aufgabe des Binnenmarktes und der Zollunion zum 1. Januar ihre Reisefreiheit verloren. So wurde es schwierig, Ersatz für Klempner aus Polen, Kellner aus Spanien, Altenpflegerinnen aus Rumänien und Reinigungskräfte aus Belgien zu finden. Insgesamt ist es für EU-Bürger, die nicht mehr ohne Weiteres nach Großbritannien reisen können, schwierig geworden, diese Positionen zu besetzen. Tatsächlich haben in den letzten Jahren Millionen Kontinentaleuropäer Jobs zu niedrigen Löhnen verrichtet, die die einheimische Bevölkerung nicht übernehmen wollte.

Trotz Anreizen steigt der Bedarf an Arbeitskräften

Es gibt Kritik, dass der für den Brexit verantwortliche Premierminister Boris Johnson diese Themenfelder ignoriert oder gar unter den Tisch fallen lässt. Denn die Johnson-Administration hat schon mit dem gleich nach dem Brexit verabschiedeten Einwanderungssystem den Zufluss billiger Arbeitskräfte eingeschränkt. Für Wirtschaftsbereiche wie etwa die Landwirtschaft wurden – außerhalb zugelassener Sonderquoten – Mindestlöhne für aktuelle Stellenangebote beschlossen. Und für lokale Arbeitnehmer fordern die Gewerkschaften sogar höhere Löhne. Tatsächlich loben Supermarktketten und Kaufhäuser vielerorts Prämien für neue Arbeitskräfte aus. So zahlt der US-Einzelhandelsriese Amazon 1.000 Pfund für die Anwerbung von Paketarbeitern, während ausgebildete Techniker beim Energieunternehmen British Gas das Dreifache erhalten. Darüber hinaus bieten Supermarktketten vierstellige Anwerbeprämien für erfahrene Lkw-Fahrer. Trotzdem konnte der Arbeitskräftebedarf im Transportbereich nicht gedeckt werden. Laut dem britischen Industrieverband (RHA) werden rund 100.000 Lkw-Fahrer benötigt, um Produkte zu transportieren. England, dessen Bevölkerung immer älter wird, hatte mit Arbeitskräften aus Osteuropa die Beschäftigungslücke im Verkehrssektor geschlossen. Während 20.000 Fahrer nach dem Brexit in ihr Land zurückkehrten, haben schätzungsweise 50.000 britische Fahrer in den letzten 18 Monaten infolge der Epidemie ihren Job aufgegeben. Weitere Gründe für das Defizit sind neben dem Brexit auch die Absage der Führerscheinprüfungen, die wegen der Epidemie monatelang nicht stattfinden konnten, und die von der konservativen Regierung eingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auch gehören Reisebeschränkungen aufgrund der Epidemie, PCR-Tests und die Notwendigkeit der Quarantäne zu den Faktoren, die interessierten Arbeitskräften die Einreise erschweren. Außerdem brachte der stark gestiegene Erdgaspreis die mit diesem Sektor zusammenhängenden verarbeitenden Industrien in Schwierigkeiten und führten zu einem Abbau der Lagerbestände. Ein weiterer Grund für diese Krise ist, dass gestiegene Herstellungspreise dazu führten, dass selbst die Düngemittel- und Kohlendioxidproduktion in einigen Betrieben eingestellt wurden.

Unternehmen, Gewerkschaften und Handelskammern üben Druck auf die Regierung aus, indem sie eine Lockerung der Einwanderungsbestimmungen für den Nahrungsmittel- und Landwirtschaftssektor fordern, wo ein besonders großer Arbeitskräftemangel herrscht. In britischen Medien wird die Regierung besonders dafür kritisiert, dass sie zu zaghaft vorgeht und dadurch Verunsicherung stiftet. Obwohl sich EU-Gegner vor dem Brexit und vor den Wahlen für eine Anti-Einwanderungs-Politik starkgemacht hatten, wurde der Arbeitskräftebedarf beispielsweise im Gesundheitswesen und anderen Bereichen, in denen Einheimische nicht arbeiten wollten, nichtsdestotrotz von Zuwanderern gedeckt. Hinzu kommt, dass die mit einer älter werdenden Bevölkerung einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme Industrieländer zwingen, Vorkehrungen zu treffen. Denn mit dem Rückgang der Zahl an jungen Menschen, die jedes Jahr in den Arbeitsmarkt strömen, wird es immer schwieriger, Mitarbeiter zu finden, um diese Stellen zu besetzen, was wiederum andere Krisen verursacht.

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