Ein dramatisches Ereignis an der türkisch-griechischen Grenze hat vergangene Woche die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Region gelenkt. Demnach wurden an der türkisch-griechischen Grenze auf türkischer Seite 19 Leichen von Flüchtlingen aufgefunden, die erfroren waren. Einer Nachstellung des Hergangs und Augenzeugenberichten zufolge wurde eine Gruppe von Menschen beim Versuch, über die griechische Grenze nach Europa zu gelangen, aufgegriffen. Nach Aussagen der Zeugen, die den Vorfall miterlebt haben, wurden die Festgenommenen zunächst an einen unbekannten Ort, wo sie drei Tage festgehalten wurden, verbracht und verhört. Später wurde diese Gruppe über die Grenze zurückgedrängt, nachdem man sie aller Wertsachen, die sie bei sich hatten und trotz der harten Winterbedingungen sogar ihrer Kleidung beraubt hatte. Weiter berichteten die Augenzeugen, dass mindestens 20 Personen dieser aus 60 Personen bestehenden Gruppe anhielten, um sich auszuruhen, zurückfielen und erfroren, während der Rest der anderen Gruppe seinen Marsch in Richtung Türkei fortsetzte.
Griechenland: Push-Backs sind normal
Bereits 2020, als Menschen versuchten, die Grenze kollektiv zu überqueren und das griechische Grenzgebiet zu erreichen, war zu beobachten, dass Griechenland diese Menschen offen zurückdrängte. Ebenso gibt es immer wieder Medienberichte über Griechenlands Aktionen, Flüchtlinge, die mit primitiven Schlauchbooten versuchen, die internationalen Gewässer bzw. griechischen Gewässer in der Ägäis zu überqueren und auf das Festland zu gelangen, mit dem Einsatz von Booten der Küstenwache, teilweise sogar durch das Zerstechen der Boote, daran hindern und sie auf hoher See ihrem Schicksal überlassen.
Insoweit sind die griechischen Push-Backs durchaus üblich. Auch wenn diese in letzter Zeit fast ein wenig in Vergessenheit geraten sind, stehen sie mit den jüngsten tragischen Entwicklungen wieder ganz oben auf der Tagesordnung. Statistiken zufolge waren allein im Jahr 2020 mehr als 10.000 Menschen von dieser rücksichtslosen und brutalen Praxis in der Ägäis betroffen. Auch die dramatischen Ereignisse an der weißrussisch-polnischen Grenze im vergangenen Jahr haben einmal mehr gezeigt, wie rücksichtslos die europäischen Mitgliedstaaten in Sachen Push-Back sind. Dass diese beim Versuch der EU-Mitgliedstaaten, ihre Grenzen zu schützen, inzwischen alltäglich sind, bestätigen auch die Vorfälle im Mittelmeer, wo es insbesondere in italienischen Hoheitsgewässern zu teils brutalen Push-Backs kam.
Was hat Frontex mit den Push-Backs zu tun?
Die für für den Schutz der See- und Landesgrenzen der EU zuständige Behörde Frontex wurde von der EU 2004 eingerichtet und arbeitet im Rahmen der von der EU-Kommission verabschiedeten Statuten. Mit den oben dargelegten Push-Backs geriet auch Frontex ins Zentrum der Kritik, weil man ihr vorwarf, die radikalen Maßnahmen von Mitgliedstaaten nicht unterbunden und damit den Tod von Asylbewerbern verschuldet zu haben.
In den Verantwortungsbereich von Frontex gehört mit einer Art Früherkennung, Asylsuchende möglichst von den Grenzen der EU-Mitgliedstaaten fernzuhalten bzw. an einem Grenzübertritt ins EU-Territorium, wenn nötig auch mit physischen Mitteln, zu hindern. Beim diesem Interventionskonzept wird das der Frontex gewährte Mandat oft ausgeklammert, ob internationale Abkommen übertreten und gar Menschenrechte verletzt werden. Entsprechend wurden Bedenken gegen die menschenrechtswidrige Push-Back-Praxis angemeldet, die sich auch in Menschenrechtsberichten widerspiegeln. Dass die im Verantwortungsbereich der Frontex praktizierten Push-Backs gegen Menschenrechte verstoßen, ist auch den EU-Institutionen bekannt. Tatsächlich laufen bereits Ermittlungen zu mindestens fünf menschenrechtswidrigen Push-Backs, an denen Frontex direkt beteiligt gewesen sein soll.
So gesehen, verdeutlichen die Tatsachen, dass Frontex, wohlgemerkt eine EU-Institution, direkt und indirekt für Push-Backs auch an der türkisch-griechischen Grenze verantwortlich ist.
Push-Back: Eine Aktion gegen die Menschenrechte
Laut Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen von 1951 verstoßen die dargelegten Praktiken bzw. die Zurückweisung von Asylbewerbern wie zuletzt in Griechenland eindeutig gegen die Konvention.
Die Europäische Union legt mit ihren Gründungsverträgen einen besonderen Wert auf Achtung der Menschenrechte und Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Und tatsächlich erlegt man Beitrittskandidaten auf, die oben genannten Prinzipien und Kriterien vor einer Vollmitgliedschaft zu verinnerlichen und zu praktizieren. Die aktuellen Entwicklungen mit offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen wie im Falle Griechenlands, Polens und Italiens offenbaren, wie die vorgeblich prinzipientreuen EU-Institutionen zu diesem Unrecht schweigen.
Das Deutsche Menschenrechtsinstitut (DMRI) hat aufgezeigt, dass die EU-Institutionen und ebenso die EU-Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Spannungen und Push-Backs an der türkisch-griechischen Grenze im Jahr 2020 tragen. So gesehen, wird wohl Griechenland, wenn es seine Haltung zu Massenrückführungen und Push-Backs an seiner Grenze nicht ändert bzw. diese Praktiken fortsetzt, möglicherweise wegen Verstößen gegen geltendes Völkerrecht und Verletzung der Menschenrechte zur Verantwortung gezogen werden.
Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen Push-Backs auch den Bestimmungen der EU-Grundrechtecharta, einem der wichtigsten Menschenrechtsdokumente der Welt. Darüber hinaus wird mit demselben Dokument erklärt, dass das Asylrecht von der EU gemäß Genfer Konvention und in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Zusatzprotokolle garantiert wird.
Rassistische Gefahr an der Grenze
Die griechische Regierung behauptet, sie sei nicht für die jüngsten Ereignisse verantwortlich und keine ihrer Beamten seien beteiligt gewesen. Die türkische Seite hingegen entgegnet, dass basierend auf der Faktenlage und Augenzeugenberichten die Verantwortung für die Vorfälle auf griechischer Seite liege. Wenn aber nun die Verantwortlichen beider Staaten behaupten, nicht verantwortlich gewesen zu sein, ist zu fragen, „wer es denn war". Die Frage bleibt im Raum.
Bei den Ereignissen an der belarussisch-polnischen Grenze Ende letzten Jahres wurde beobachtet, dass bewaffnete Gruppen in Zivil gegen Flüchtlinge von beiden Seiten vorgingen. Ebenso bestätigen Aussagen von Augenzeugen, dass bei den meisten Push-Backs neben offiziellen, uniformierten Staatsbeamten auch Personen zugegen waren, die keine offiziellen Abzeichen trugen. Dafür bieten sich verschiedene Erklärungsversuche an.
Es ist möglich, dass es sich bei diesen paramilitärischen Einheiten um rassistische Organisationen handelt, die losgelöst von staatlichen Institutionen, womöglich zusammen mit rassistischen Beamten aus dem Staatsapparat, an rassistischen Übergriffen beteiligt waren. Überlebende der brutalen griechischen Push-Backs bestätigen, dass diese Gruppen in Zivil gemeinsam mit den uniformierten Beamten handelten.
Unabhängig von ihrem Status stellt diese Situation nicht nur für Asylsuchende, sondern auch innerhalb der EU eine ernsthafte Gefahr dar. Die EU-Institutionen sollten sich ernsthaft mit solchen Vorfällen befassen und die mögliche Existenz von unabhängig agierenden Parallel-Strukturen an den EU-Grenzen untersuchen.
Es ist inakzeptabel, dass die EU, vorgeblich aus Gründen der Grenzsicherheit, ihre Grenzen für Asylsuchende praktisch geschlossen hat und damit die Verantwortung den Anrainerstaaten zuschiebt. Zudem ist die aktuelle Migrations- und Asylpolitik der EU, die zuletzt durch Push-Back-Vorfälle die öffentliche Aufmerksamkeit erregte, mit dem Völkerrecht und den universellen Menschenrechten unvereinbar.
Es kann nicht sein, dass die skandinavischen Staaten sowie Deutschland, Frankreich und die Niederlande, also die Kernstaaten der EU, die gesamte Verantwortung Ländern wie der Türkei überlassen, die als Anrainer der EU besonders unter der Last der aktuellen Flüchtlingsströme zu leiden haben. In diesem Sinne sollte der türkischen Forderung nach einer „gerechten Verteilung der Verpflichtungen“ in Bezug auf die Flüchtlinge von den EU-Institutionen Beachtung geschenkt werden.
Europa muss seine Anstrengungen zum Schutz der eigenen Grenzen dem Schutz des Lebens von Flüchtlingen unterordnen und Letzterem entsprechend Vorrang einräumen. Menschenleben müssen geschützt und gesichert werden. Maßnahmen, um die Grenzen Europas wirksam zu schützen, können nicht wichtiger sein als das Leben von Menschen. Dies widerspricht auch den Gründungsprinzipien der EU und den Menschenrechtsprinzipien, an denen diese vorgeblich noch festhält.
Um weitere Menschenrechtsverletzungen durch EU-Mitgliedstaaten und EU-Institutionen zu verhindern, sollten vor allem Mitgliedstaaten wie Griechenland in Kooperation mit den Anrainerstaaten Flüchtlinge bei ihrer Aufnahme und Registrierung und der Entgegennahme ihrer Asylanträge unterstützen.
Denn vergessen wir nicht: Kein Mensch ist illegal!