Bereits seit dem ersten Tag verfolgen die Menschen in Bosnien den Angriff Russlands auf die Ukraine und teilen den Schmerz und die Angst der Menschen in der Ukraine. Normalerweise ist daran nichts Ungewöhnliches, denn jedes Menschenkind mit einem Gewissen nimmt in einer solchen Situation seinen Platz an der Seite der Opfer ein. Für Bosnierinnen und Bosnier ist es dann doch noch etwas anders, weil auch sie in der jüngeren Vergangenheit brutal und zu Unrecht angegriffen wurden und vier Jahre lang für ihre Heimat kämpften.
Es gibt niemanden auf der Welt, der Bosnien und Herzegowina bzw. den Krieg, die Massaker und den Völkermord zwischen 1992 und 1995 nicht kennt. Das dachten wir zumindest, bis der Krieg in der Ukraine begann. Besonders wenn man die Kommentare von Journalisten und Politikern in ausgewählten internationalen Medien verfolgt, stellt sich für Bosniaken, die den Krieg miterlebt haben, fast schon die Frage, ob es diesen überhaupt gab. So gesehen ist die derzeitige Ignoranz nicht anders zu erklären und wohl eher als westliche Doppelmoral und Heuchelei in Sachen Menschlichkeit zu werten.
Bosnien und Herzegowina liegt auf dem europäischen Kontinent
Trotz der Tatsache, dass der Völkermord von Srebrenica von internationalen Gerichten anerkannt wurde und die Europäische Union gebetsmühlenartig wiederholt, aus Bosnien gelernt zu haben, kommentieren die genannten Personengruppen den Krieg in der Ukraine so, als ob in Bosnien und Herzegowina nichts passiert wäre.
Beispielsweise schrieb Paul Massaro aus Washington auf seinem Twitter-Account, dass er sein Gehirn zermartern würde, um etwas zu finden, was dem Mut und dem Kampfeswillen der Ukrainer gleichkäme, aber nichts Vergleichbares finden könne. In O-Tönen von Ukrainern auf CNN hört man, dass der Krieg nach 80 Jahren wieder Europa heimgesucht hätte.
Unweigerlich stellt sich die Frage: Auf welchem Kontinent liegt Bosnien und Herzegowina? Warum wird der vier Jahre währende Krieg in Bosnien und Herzegowina ignoriert? Mitten in Europa wurde ein Völkermord begangen. Und obwohl es möglich wäre, über den bis dahin beispiellosen Widerstand der bosnischen Bevölkerung zu sprechen, die sich in Sarajevo den angreifenden serbischen Streitkräften 4 Jahre lang entgegenstellte und damit die geplante Eroberung der Stadt verhinderte, wird dieser Aspekt derzeit ignoriert. Und dabei war die bosnische Armee noch nicht einmal im Besitz eines Bruchteils der heute verwendeten hochmodernen Waffen wie etwa der Bayraktar-Drohnen. Es gab noch nicht einmal eine reguläre Armee. Als der Krieg damals ausbrach, schlossen sich die Bosniaken in Turnschuhen und Jeans den Einheiten an und gingen mit kaum vorhandener Munition an die Front. Unter der weisen Führung von Alija Izetbegovic, der es sich zum Maßstab gemacht hatte, niemals dem Feind zu ähneln, unterlagen die frustrierten serbischen Streitkräfte und bekamen nicht, was sie so sehr wollten. Darüber hinaus waren die meisten Opfer in Bosnien und Herzegowina Zivilisten und wurden vorsätzlich und willentlich getötet.
Aber um zu verstehen, warum Bosnien und Herzegowina derzeit ignoriert wird, lohnt es sich, weitere Kommentare zum aktuellen Konflikt näher zu betrachten.
Wird Bosnien und Herzegowina vergessen, weil es muslimisch ist?
Ein Kommentator des französischen Senders BMF betont bei der Berichterstattung über Menschen, die aus der Ukraine fliehen, es handele sich nicht um „Syrer, sondern um Europäer, die in die gleichen Autos wie die unseren steigen, um ihr Leben zu retten.“ Auf demselben Kanal berichtet der Kommentator Ulysse Gosset von einem „Raketenbeschuss in einer europäischen Stadt, als ob es eine im Irak oder Afghanistan wäre.“ Charlie D‘Agata, Auslandskorrespondent von CBS wiederum betont, seine Worte mit Bedacht zu wählen, und unterstreicht, die Ukraine sei „nicht Afghanistan oder der Irak, sondern zivilisiert und europäisch.“ In gleicher Weise sagte der stellvertretende Generalstaatsanwalt der Ukraine, David Sakvarelidze, in einem Interview auf BBC, dass das, was gerade passiere, sehr emotional sei und erklärte, „Europäer mit blauen Augen und blonden Haaren werden getötet.“ Die Korrespondentin von ITV News, Lucy Watson, wiederum ist der Ansicht, die Ukraine sei „kein Entwicklungsland der Dritten Welt, sondern Europa.“
Es drängt sich die Frage auf, ob das, was in Bosnien und Herzegowina passiert ist, in Vergessenheit gerät, nur weil Bosniaken Muslime sind. Denn die einzige Schlussfolgerung, die wir aus all den zitierten Kommentaren ziehen können, ist die, dass Krieg in Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak wohl normal und der gewaltsame Tod von Menschen dort alltäglich, aber so etwas in einem europäischen Land nicht hinnehmbar ist. Aber auch Bosnien und Herzegowina ist ein europäisches Land und liegt im Herzen Europas. In der Tat, wenn wir bei diesem Sprachgebrauch bleiben, steigen auch wir eben wie Europäer in die gleichen Autos ein sind ebenso blond bzw. blauäugig. Das Einzige, was uns von den Menschen in der Ukraine unterscheidet, ist, dass wir Muslime sind. Es kann also wohl nur einen Grund geben, warum wir ignoriert werden, und das ist unsere Religion.
Ist das nicht auch der Grund, warum (wir) einem Völkermord zum Opfer gefallen sind? Sind wir nicht deshalb getötet worden, nur weil wir Muslime sind? Aber weder haben wir in jenen Jahren die Hilfe und Unterstützung, die Europa jetzt der Ukraine gewährt, erfahren, noch scheint es, dass wir heute wahrgenommen werden. Menschen in dieser Weise nach Aussehen und Religion zu unterscheiden, passt zu keiner Zivilisation und Kultur und widerspricht letztlich jeglicher Menschlichkeit. So versuchen „zivilisierte Europäer“, die heute um die Ukraine weinen, immer noch denjenigen Lektionen zu erteilen, die sie kulturell nicht als ebenbürtig erachten.
Liebes Europa!
Die Bosniaken können am besten nachempfinden, was heute in der Ukraine vor sich geht. Mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine kehrten auch die bösen Erinnerungen an den Krieg in Bosnien zurück. Und weil dieser Krieg tiefe Spuren hinterlassen hat, horten die Bosniaken jetzt wieder Lebensmittel. Denn sie wissen ganz genau, was es bedeutet, zu hungern.
Liebes Europa!
Man muss nicht in die Zeit der Weltkriege zurückgehen. Zwischen 1992 und 1995 fand in Bosnien und Herzegowina vor deinen Augen ein Krieg statt, der vier Jahre dauerte und mit einem Völkermord endete. Und die Bosniaken leisteten glorreichen Widerstand.
In diesem Sinne unterscheiden zivilisierte Menschen nicht zwischen den Opfern. Man steht den Unterdrückten bei, wer auch immer sie sind.
Und liebes Europa!
Beschütze wenigstens dieses eine Mal Bosnien und Herzegowina und halte Milorad Dodik auf, der zunehmend Schritte unternimmt, die den Frieden bedrohen und das Land in einen Krieg treibe.