Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mit Mundschutz beim Ibiza-Untersuchungsausschuss im Parlamentsausweichquartier in der Hofburg. (dpa)
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Österreichs Politik kommt seit dem Erscheinen des skandalösen Ibiza-Videos vor einem Jahr nicht mehr zur Ruhe. Das als Falle angelegte heimlich aufgenommene Video zeigte den damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache als betrunkenen Hallodri, der einer vermeintlichen russischen Oligarchin unanständige Geschäfte anbot - die, wären sie umgesetzt worden, durchaus den Tatbestand der Korruption erfüllt hätten. Das Video bewog Strache und seine gesamte Ministerschaft zum Rücktritt. Kurze Zeit später wurde Sebastian Kurz samt Minister durch einen in der Zweiten Republik bis dato einmaligen Misstrauensantrag seines Amtes enthoben. Kurz habe das Schlamassel mitzuverantworten, denn schließlich habe er sich für den Koalitionspartner FPÖ entschieden, so die Begründung des Antragstellers SPÖ. Eine in der Bevölkerung als hochanständig wahrgenommene Übergangsregierung bestehend aus Expertinnen und Experten trat seinen Dienst an.

Die Neuwahlen im Oktober 2019 brachten den Grünen nicht nur den Wiedereinzug ins Parlament, sondern auch Regierungsbeteiligung als Juniorpartner des Wahlgewinners ÖVP ein. Die Regierungszusammenarbeit gestaltete sich seither als relativ skandalfrei. Doch seit Beginn des Ibiza-Untersuchungsausschusses Anfang Juni erschüttert ein Ibiza-Nachbeben nach dem anderen die Republik. Die Opposition nutzt den Ausschuss um vielen offenen Fragen nachzugehen. Wer steckt hinter dem Video? Wer ist, oder wer sind die Auftraggeber? Wusste die ÖVP, und wusste Sebastian Kurz schon vor der Veröffentlichung von dem Video? Wenn ja, warum hielt er es zurück, beziehungsweise warum hat er nicht schon früher die Reißleine gezogen und die Koalition aufgelöst? Steckt die ÖVP gar selbst hinter dem Video? Ist was dran an den im Video von Strache getätigten Aussagen, dass Parteispenden sowohl von FPÖ als auch von ÖVP über parteinahe Vereine eingenommen werden, um Spendenobergrenzen zu umgehen? Ist es wahr, dass der Glücksspielkonzern Novomatic „alle bezahlt“ und im Gegenzug glückspielfreundliche Lizenzen bekommt? Was hat es mit Besetzungen von Parteifunktionären in staatsnahen Betrieben auf sich?

In der laufenden dritten Ausschusswoche dreht sich nun alles um die Frage, ob die ÖVP bzw. Kurz schon früher vom Video Bescheid wusste. Die Opposition wundert sich seit längerem, warum dem Untersuchungsausschuss bis jetzt keine Chat-Protokolle zwischen Kanzler Kurz und Vizekanzler Strache überreicht wurden. Diese sind ja seit der Beschlagnahmung von Straches Handy im August 2019 im Besitz der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Wiederholt wurden seither Chat-Verläufe von Strache mit Mitgliedern der Bundesregierung veröffentlicht - jedoch nie welche mit Sebastian Kurz.

Dann der große Aufreger: Die Boulevardzeitung Österreich veröffentlichte am 23. Juni Auszüge aus zwei Chat-Verläufen zwischen Kurz und Strache. Inhaltlich eher unkritisch zeigen die Chats ein doch recht ausgeprägtes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Regierungspartnern. Kritiker interpretieren in der Zuspitzung der harmlosen Chat-Verläufe ein Ablenkungsmanöver der ÖVP; eine Nebelgranate, die geschickt platziert am Tag vor dem Auftritt von Kurz im Untersuchungsausschuss von möglichen unangenehmen Details und Wahrheiten ablenken soll.

Die vierstündige Kanzlerbefragung brachte außer viel Ärger und zähes Geplänkel kaum neue Erkenntnisse. Kurz, der schon einmal aus seinem Amt gejagt wurde, und dem die Wähler dann bei den Neuwahlen doch wieder ihr Vertrauen aussprachen: Wird er es diesmal auch wieder schaffen, sich unbescholten aus der Affäre zu ziehen? Wird er sein Image als anständiger Politiker, der selbst nicht anpatzt, sondern immer nur angepatzt wird, halten können? Wie anständig ist Kurz wirklich?

Den Anstand eines Politikers misst man nicht anhand des Unterlassens oder Begehens von Gesetzesübertretungen. Die Grenzen des moralischen Handelns sind für einen Politiker weitaus enger gesteckt. Schließlich sind sie es, die die Gesetze für alle Menschen im Land beschließen. Daher müssen Politiker und Politikerinnen sich nicht nur selbst strikt an die Gesetze halten, sondern als starkes Vorbild vorangehen. Ihr Handeln und ihre Geisteshaltung dürfen daher nicht einmal in Richtung einer Gesetzesübertretung deuten.

Das Ibiza-Video zeigt einen Vizekanzler, der ungeniert mit Korruptionsdelikten flirtet. Österreich wird seit zweieinhalb Jahren mit kurzer Unterbrechung von einem Kanzler regiert, der mit der FPÖ koalierte, einer Partei, deren höchste Funktionäre deutschnationale, schlagende Burschenschafter sind und die seit über zehn Jahren mit hetzerisch-antimuslimischen Kampagnen die Gesellschaft spaltet. Es war auch Kurz, der sich nicht an die Corona-Abstandsregeln bei seinem Besuch im Kleinwalsertaal hielt. Derselbe Mann ließ zu, dass seine Partei die gesetzlichen Grenzen der Wahlkampfkosten um sieben Millionen überschritt. Weder Vizekanzler Strache noch Kanzler Kurz haben Gesetze übertreten. Doch beide Politiker zeichnen durch ihr Verhalten ein Sittenbild der Unanständigkeit, weit entfernt von Anstand und Moral.

Der Untersuchungsausschuss ist das mächtigste Kontrollinstrument der Opposition. Er könnte verborgene Wahrheiten und Informationen ans Tageslicht bringen, die den Wählerinnen und Wählern ein ehrlicheres Bild vom mächtigsten Mann im Land liefern. Je nach Brisanz der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses könnten ohnehin bald wieder Neuwahlen anstehen - zum dritten Mal unter Sebastian Kurz als Regierungspartner. Die nächsten Wahlen, sie könnten endlich die Bühne frei machen für Politikerinnen und Politiker, die nicht nur so tun, als wären sie anständig, sondern es auch wirklich sind. Es ist längst Zeit für die Anstandswende in der Politik!

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