Seit 2021 tagt ein Untersuchungsausschuss „Hanau“ im Hessischen Landtag. Für die strafrechtliche Aufklärung ist der Bundesstaatsanwalt zuständig. „Aufgabe des Hessischen Landtages ist es, eventuelle Versäumnisse der Hessischen Landesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden, Probleme in verwaltungsinternen Abläufen und Defizite der bestehenden Strukturen zu untersuchen“. So benennt der Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses vom Juli 2021 dessen Aufgabe. Es geht aber auch um viele drängende Fragen der Hinterbliebenen der Opfer, sowohl aus ihren Familien als auch aus den gesellschaftlichen Gruppen und Gemeinschaften, denen sie sich zugehörig fühlten.
Fragen nach dem Warum und den Folgen
Die ersten drei Sitzungen wurden den Angehörigen reserviert, um ihnen Gelegenheit zu geben, öffentlich zu sagen, was ihnen wichtig ist und ihre Fragen zu stellen. Nicht sie wurden von den Ausschussmitgliedern als Zeugen befragt. Vielmehr geht es darum, Anteilnahme und Respekt auszudrücken. Fragen gibt es nach wie vor viele: Hätte die Tat verhindert werden können? Haben Sicherheitsdienste und Polizei versagt? Kann man Behörden vertrauen, und schützen sie alle Menschen gleichermaßen in diesem Land? Müssen Strukturen und Abläufe verändert werden? Warum durfte ein Mann, der seine Vernichtungsfantasien öffentlich gemacht hatte, legal Waffen besitzen? War er ein Einzeltäter? Was waren die Motive, und wie sind sie politisch zu werten? Gegen wen richtete sich das Verbrechen? Was hat den Täter radikalisiert? Welche Rolle spielte sein Vater? Welche Rolle spielte die psychische Erkrankung? Gab es Fehler von Behörden und Einsatzkräften vor, während und nach der Tat? Wenn ja, wer trägt Verantwortung und muss zur Rechenschaft gezogen werden? War Hanau ein Einzelfall, oder sind die Morde Ausdruck zunehmender rechter Gewalt? Welche Lehren müssen aus dem Verbrechen gezogen werden, und was hat sich in den letzten beiden Jahren in dieser Hinsicht verändert? Und das sind nur einige der drängenden Fragen, die beantwortet werden müssen.
Wahrheitsfindung und Kampf um politische Deutung
Nach den Angehörigen kommen die Sachverständigen zu Wort. Bislang wurden 16 Experten vorgeladen, um die Sacharbeit der beteiligten Behörden zu prüfen, gegen die geklagt worden war. Ein Verfahren – zum geschlossenen Notausgang an einem der beiden Tatorte – wurde bereits eingestellt, ein anderes – gegen die ermittelnden Polizisten – nicht eröffnet. Ab diesem Punkt der Ausschussarbeit geht es um mehr als um Anteilnahme und Wahrheitsfindung. Der Ausschuss, der auf Initiative der Oppositionsparteien SPD, FDP und Linke eingerichtet wurde, ist auch ein politisches Instrument im Parteienstreit um die Frage, wer sich beim Kampf um die Deutungshoheit mit seiner Sicht durchsetzt. Jeder verfolgt eigene politische Interessen und sucht nach Belegen, die dem jeweiligen Interpretationsmuster entsprechen. Die Linke zieht eine direkte Verbindung von ausländerfeindlicher Rhetorik rechter Politik zu den Morden von Hanau. Die Rechte weist das zurück und sieht in dem Täter einen geisteskranken Einzeltäter. Die Opposition will die Regierung schwächen, indem sie den CDU-Innenminister direkt angreift. Die Regierung steht im Wort ihres Ministerpräsidenten, der vollständige Aufklärung versprochen hat.
Was kann mit der Ausschussarbeit erreicht werden?
Mittlerweile leben auf der Welt wieder weniger Menschen in demokratischen politischen Systemen als in nichtdemokratischen. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, in Fällen wie dem Anschlag von Hanau Aufklärung nicht nur Behörden und der Justiz zu überlassen, sondern sich den drängenden Fragen der Angehörigen und der politischen Dimension des Verbrechens zu stellen. Es geht um Transparenz, Aufarbeitung, Öffentlichkeit gegen das Verdrängen und Vergessen, aber auch darum, Zeichen zu setzen gegen die Feinde der offenen Gesellschaft und gegen Verharmlosung. Wo es Fehlverhalten gegeben hat, muss politische Verantwortung übernommen werden, aber auch da, wo es falsche Anschuldigungen gab, muss dies richtiggestellt werden, und die Beteiligten müssen vor pauschalen Urteilen geschützt werden wie auch vor politischer Inanspruchnahme. Die Arbeit eines Untersuchungsausschusses ist aber auch ein Beitrag zur Selbstbefragung einer Gesellschaft, wie sie es hält mit der Gleichheit aller Menschen und ihrem Umgang mit politisch motivierter Gewalt.
Schaut man auf die Aufgabenstellung des Untersuchungsausschusses und die Fragen der Hinterbliebenen, so dreht sich alles um Fakten. Um zu klären, wie sich jemand so radikalisiert, dass er zum Attentäter wird, stößt aber die Suche nach objektiven Tatbeständen und eindeutigen Befunden an ihre Grenzen. Es wird nicht mehr zu klären sein, welche Rolle die psychische Erkrankung spielte. Und ebenso spekulativ ist der Versuch, eine direkte Linie zu rechter Agitation und der konkreten Tat zu ziehen. Eine der Schwierigkeiten liegt darin, dass rechte Ideologen bei ihrem Konzept der sogenannten „Metapolitik“ davon ausgehen, dass politische Veränderung nicht nur über Institutionen wie Parlamente und Parteien geschieht, sondern durch eine Verschiebung dessen, was als „normal“ angesehen wird. Sie wirken im vorpolitischen Raum. Denn es ist gerade das Wesen dieser schleichenden Vergiftung der Diskurse, dass sie eben nicht objektiv festzumachen sind oder eine konkrete Wirkungsanalyse erlauben. Wer kann sagen, was der Erweckungsmoment eines radikalisierten Attentäters war, ab welcher Häufung der vielen kleinen Tabubrüche und Andeutungen jemand Gewalt für gerechtfertigt hält? Und dabei ist mitzubedenken, dass es zur Freiheit des Andersdenkenden gehört, dass auch dumme Positionen geäußert werden dürfen. Meinungsfreiheit hat ihre Grenze dort, wo es strafrechtlich relevant wird. Bis zu dieser Grenze ist aber vieles möglich, und die Feinde der offenen Gesellschaft sind sich ihrer suggestiven und manipulativen Möglichkeiten bewusst. So bleibt einem demokratischen Rechtsstaat nichts anderes übrig, als die eigenen Ansprüche so gut zu erfüllen, wie es geht und das bessere Angebot zu machen. Öffentlichkeit und Aufklärung über einen Untersuchungsausschuss sind ein Beitrag dazu, und das Ergebnis wird sicherlich nicht alle zufriedenstellen. Im besten Fall wird es ein Beleg für gesellschaftliches Lernen.
Aber auch symbolische Akte sollten nicht geringgeschätzt werden, weil sich darin Menschlichkeit und Respekt ausdrücken, auch wenn dies die Opfer nicht wieder lebendig macht. Die Stadt Hanau hat die neun Anschlagsopfer posthum mit der Ehrenplakette in Gold als höchste Auszeichnung der Stadt gewürdigt. Einer von ihnen, Vili Viorel Păun, der den Täter verfolgte, um ihn zu stoppen und dabei erschossen wurde, wurde 2021 von Ministerpräsident Bouffier mit der Verleihung der Hessischen Medaille für Zivilcourage geehrt.