Philosoph Jürgen Habermas / Photo: DPA (dpa)
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In der vergangenen Woche wurde eine Erklärung veröffentlicht, unterzeichnet von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas. In dieser Erklärung wird betont, die Handlungen Israels könnten nicht als Völkermord bezeichnet werden. Das Recht auf Existenz des Staates Israel und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland wird nachdrücklich hervorgehoben, jedoch wird nicht auf das Leben der Palästinenser eingegangen. Die Erklärung macht im Wesentlichen deutlich, dass über die Geschehnisse im Gazastreifen nicht diskutiert werden, kann: „der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland.“

Andererseits könnte man beim Lesen der Erklärung von Habermas und anderen den Eindruck gewinnen, als hätte der Konflikt zwischen Palästina und Israel erstmals am 7. Oktober begonnen und als würde die Vergangenheit des Holocausts in Deutschland mit den Taten der Hamas in Verbindung gebracht. Tatsächlich ist das Hauptziel der Erklärung dies: „In der Vergangenheit war alles in Ordnung, es gab keine Probleme in Palästina, und alle Probleme begannen mit der Operation der Hamas am 7. Oktober.“

Habermas und seine Kollegen nutzen eigentlich ihre gesamte Karriere, um einen Beitrag zum Wahrnehmungsmanagement Israels zu leisten. Aber wie wurde Habermas von der Weltgemeinschaft bis heute wahrgenommen? Welche Werte hat Habermas bisher verteidigt?

Frankfurter Schule und Habermas

Die Frankfurter Schule um Habermas setzt sich eigentlich für eine kritische Untersuchung und Hinterfragung gesellschaftlicher, kultureller und politischer Phänomene ein. Dies fördert kritisches Denken mit dem Ziel, die Grundlagen gesellschaftlicher Probleme zu verstehen und zu verändern. In Habermas‘ jüngster Erklärung ist jedoch keine Anstrengung zu erkennen, die Wurzeln des seit etwa 70 Jahren bestehenden Konflikts zwischen Israel und Palästina zu verstehen. Stattdessen werden die Leiden der Palästinenser und die in Gaza getöteten Kinder ignoriert.

Ein weiteres Anliegen der Frankfurter Schule ist die Sensibilität gegenüber sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Leider zeigt die Erklärung nur eine Sensibilität gegenüber Israel. Wenn es um das Thema Gerechtigkeit geht, findet man in der Erklärung nichts darüber, dass die Palästinenser seit Jahren unter Belagerung leben.

Habermas, der bisher als ein „wichtiger Theoretiker“ in den Bereichen Kommunikation, öffentlicher Raum und moralische Diskussionen angesehen wurde, hat jahrelang betont, die Kommunikation zwischen Menschen solle frei und gerecht sein. In seiner Erklärung erwähnt er jedoch nicht, dass Israel alle Kommunikationsmittel der Palästinenser blockiert. Nach seinen jahrelangen Bekenntnissen zur Bedeutung rationaler Diskussionen gibt es in der Erklärung von Habermas nichts, was die Rationalität betrifft. Stattdessen liegt eine einseitige Unterstützung für Israel in diesem Text vor.

Warum haben Habermas und die anderen drei Wissenschaftler, die jahrelang Begriffe wie „Wert, Moral, Demokratie, Diskussion, Gerechtigkeit und Gesellschaft“ verteidigt haben, plötzlich eine Erklärung veröffentlicht, die im Kontrast zu all diesen Werten steht? Haben sie uns beim Verteidigen dieser Werte getäuscht oder dienen sie jetzt mit dieser Erklärung einem Wahrnehmungsmanagement?

Was ist das Ziel der Erklärung?

Im Jahr 2012, als ein Reporter der israelischen Zeitung Haaretz Habermas fragte, wie er die Politik Israels bewerte, hatte Habermas erklärt, dass es nicht die Aufgabe einer Person seiner Generation sei, dies zu beurteilen. Tatsächlich ist Habermas‘ grundlegender Widerspruch nicht das Thema von heute. Schon vor Jahren schwieg Habermas angesichts der Politik Israels und ließ Begriffe wie Kritik, Gerechtigkeit, Demokratie, Werte und Diskussion unbeachtet. Das grundlegende Problem von Habermas und seiner Generation ist eine unendliche Schuldpsychologie. Die Generation, von der Habermas spricht, ist diejenige, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in Europa miterlebt hat. Aber hier liegt der Widerspruch von Habermas: Hat die Hamas diesen Völkermord in der Geschichte begangen?

Alex Callinicos, Professor für Europastudien am King‘s College London, schrieb auf seinem X-Account Folgendes über die Erklärung von Habermas und seinen Kollegen: „Diese Verteidigung seitens Habermas und Kollegen, nicht von Israel im Abstrakten, sondern von den Handlungen der rassistischen, rechtsextremen Netanjahu-Regierung, ist ein gutes Beispiel dafür, wie ‚normative Ordnungen‘ von jeglicher Betrachtung der Fakten losgelöst werden können. Die Philosophen wissen einfach, ohne sich die Mühe zu machen zu erklären, woher sie das Wissen darüber haben, dass es die Hamas ist, die Gräueltaten begeht, und dass Israel keine „völkermörderischen Absichten“ hegt, obwohl seine Minister diese immer wieder beteuern. Die Kritische Theorie ist offiziell tot.“ (Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt vom Autor)

Callinicos‘ Beitrag ist kein Zufall, sondern ein Beispiel für die wenigen gewissenhaften und objektiven Akademiker im Westen. Die westlichen Intellektuellen versuchen, die Schuld der Vergangenheit durch Schweigen zu begleichen.

Der Unterschied zwischen Israel und den Juden

Habermas und seine Kollegen haben tatsächlich einen Grund, den sie vor uns verbergen, und führen eine Wahrnehmungsoperation durch: die Unantastbarkeit Israels sicherstellen. Dabei handelt es sich jedoch um einen Staat. Einer von etwa 200 anderen Staaten auf der Welt. Das Judentum und der Staat Israel sind zwei verschiedene Dinge. Habermas verteidigt jede Politik Israels, um die Schulden seiner eigenen Generation zu begleichen. An vielen Orten auf der Welt fordern viele Juden, dass der Staat Israel seine Angriffe gegen die Palästinenser einstellt, und kritisieren Israel. Es gibt eine Tatsache, die sowohl Intellektuelle als auch alle Menschen heute akzeptieren müssen: Die Lehren aus dem Holocaust bestehen nicht darin, zuzusehen, wie die Palästinenser aus ihrem Land vertrieben oder getötet werden.

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