Israelische Luftangriffe auf Gaza. / Photo: AA (AA)
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Der „Kontext“ des derzeitigen Konflikts zwischen Israel und der Hamas darf nicht außer Acht gelassen werden, worauf selbst UN-Generalsekretär Antonio Guterres im UN-Sicherheitsrat hinwies: „Die Palästinenser leiden seit 56 Jahren unter erstickender Besatzung.“ Und: „Keine Partei eines bewaffneten Konflikts steht über dem internationalen humanitären Recht.“ Eine „kollektive Bestrafung“ sei mit dem humanitären Völkerrecht unvereinbar.

Sorge um Zukunft der Menschheit und Menschlichkeit

Auch in bewaffneten Konflikten und im Krieg gibt es humanitäre Regeln, an die sich die Parteien halten müssen. Die Wasser- und Nahrungszufuhr zu zerstören, Elektrizitätswerke und medizinische Einrichtungen zu bombardieren, Schulen und Kindergärten dem Erdboden gleichzumachen, Kirchen und Moscheen zu beschießen und somit die Zivilbevölkerung zu quälen, sind nicht die Methoden einer staatlichen Kriegspartei, sondern tragen vielmehr die Handschrift gesetzloser, bestialischer Terrororganisationen. Der unverhältnismäßige Vernichtungswahn einer Kriegspartei, die auch noch von Teilen der internationalen westlichen Staatengemeinschaft beklatscht und bejubelt wird, bereitet große Sorgen: Sorgen um die Zukunft der Menschheit und Menschlichkeit. Sorgen um Recht und Gerechtigkeit. Sorgen um den Frieden in der Welt.

Das Versagen Europas

Was wir seit Wochen miterleben, ist eine Schändung des humanitären Völkerrechts vor den Augen der gesamten Weltgemeinschaft. Zorn und Hass einer überreagierenden Militärmacht verbreiten Angst und Schrecken. Sind sich die Akteure bewusst, dass durch ihr misanthropisches Handeln die Abneigung der Menschen gegen sie unaufhaltsam wächst? Wir sind Zeugen einer noch nie dagewesenen Rechtfertigungsorgie. Diejenigen Staaten, die Israel einen Blankoscheck ausstellen, machen sich zum Mitschuldigen bei dem Massenmord, der bereits von einigen Regierungschefs als Quasi-Völkermord bezeichnet wird. Die präzedenzlose Gleichgültigkeit gegenüber den Zivilisten in Gaza wird zu einem wachsenden Problem für die europäischen und US-amerikanischen Institutionen. USA und EU riskieren damit all ihre Glaubwürdigkeit. Denn viele Regionen der Welt werden das nächste Mal, wenn Europäer und Amerikaner das Wort „Menschenrechte“ in den Mund nehmen, diesen Worten keinen Glauben mehr schenken. Sowohl Reputation als auch Authentizität des Westens sind nicht nur brüchig, sondern wertlos geworden.

Flächenbrand steht bevor

Wenn sich dieser Konflikt als ein Flächenbrand in die gesamte Region und möglicherweise irgendwann auch nach Europa ausbreitet, wäre der Großteil des Westens an diesem Unglück nicht unschuldig. Der Westen hat bei diesem schon seit über einem halben Jahrhundert andauernden Konflikt, wie so oft in der Vergangenheit, kläglich versagt. Der alte Kontinent hat die Vorgänge viel zu lange hingenommen und zugeschaut. Und auch die Aussöhnung Israels mit Saudi-Arabien und anderen arabischen Staaten in der Region ist derzeit eingefroren. Darüber hinaus ist Israel gerade dabei, wichtige Verbündete wie Türkiye zu verlieren. Eine große Chance zum Frieden im Nahen und Mittleren Osten ist damit wieder vom Tisch.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Ein anderer Punkt ist die Kriminalisierung nahezu aller Palästinenser. Kritik an den Massakern und Verbrechen Israels ist in weiten Teilen des Westens zum Tabu geworden. Oftmals wird Einspruch gegen die Missachtung des Völkerrechts nicht nur mit Israelfeindlichkeit, sondern auch mit Antisemitismus gleichgesetzt. Freiheitsbekundungen für Palästina und den Palästinensern werden hingegen kategorisch zurückgewiesen. Eine Diskussionskultur wird im Keim erstickt. Allerdings lehrt uns der erste Artikel des Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dort werden keine ethnischen oder religiösen Grenzen gezogen. Es heißt: Die Würde aller(!) Menschen ist unantastbar.

Generalverdacht gegenüber Palästinensern

Der freie Journalist Teseo La Marca sagt, dass in Deutschland unzählige Menschen mit palästinensischen Wurzeln leben, die die Hamas ablehnen, die Israel das Existenzrecht nicht absprechen und die dennoch mit großer Sorge und Grauen auf das Leid der Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland blicken. Dieser „Protest richtet sich nicht gegen die israelische Bevölkerung, sondern gegen die Angriffe auf zivile Ziele, gegen die Vertreibung Hunderttausender aus ihren Häusern“, so der 30-jährige Publizist. La Marca kritisiert in seinem Beitrag außerdem, dass in mehreren deutschen Städten Justizbehörden, die reihenweise Pro-Palästina-Demonstrationen untersagten, mit der „unmittelbare(n) Gefahr, dass es bei der Versammlung zu volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen, Gewaltverherrlichungen (…) sowie Gewalttätigkeiten kommt“, argumentierten. Und er fragt: „Doch rührt diese Gefahr allein daher, dass es sich um eine Kundgebung von Palästinensern und Palästinenserinnen handelt?“ Schließt man sich dieser Logik an, so wären alle Palästinenser in Deutschland aufgrund ihrer ethnischen Herkunft per se gewalttätig, volksverhetzend oder antisemitisch. Diese Auffassung ist an Absurdität nicht zu überbieten. Das ist ein mustergültiger Generalverdacht.

Grund- und Freiheitsrechte auch für Palästinenser

„Für jene, die friedlich für ein Ende der Gewalt demonstrieren wollen, muss die Meinungs- und Versammlungsfreiheit uneingeschränkt gelten. Wir sollten ihnen zuhören“, sagt René Wildangel in einem Gastbeitrag. Der Nahosthistoriker, der von 2011 bis 2015 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah war, warnt zudem vor „antipalästinensischen Reflexen“, und zwar nicht nur im virtuellen Leben: „Palästinenserinnen und Palästinenser wurden pauschal mit dem Terror der Hamas identifiziert, sie werden dieser Tage unter Generalverdacht gestellt. In Berlin wurde Schulen freigestellt, Symbole wie den Palästinenserschal zu verbieten, da diese geeignet seien, ‚den Schulfrieden zu gefährden‘. Auch die Fahne wurde einkassiert. Nicht die der Hamas wohlgemerkt, sondern die Palästinas, die auch vor den Vereinten Nationen in New York weht.“ Wildangel berichtet, dass es schon vor den aktuellen Ereignissen „kaum Freiräume für palästinensische Stimmen“ in Deutschland gegeben habe; jetzt aber drohten diese gänzlich zu verschwinden. „Demos werden unterbunden, sogar Solidaritätsbekundungen jüdischer und israelischer Aktivisten“, beklagt der Nahostexperte.

Noch nie dagewesenes Ausmaß an Konformitätsdruck

Wohin der Konformitätsdruck führt, kann täglich nachverfolgt werden: Personen, die Kritik am Vorgehen Israels äußern, müssen mit Entlassungen, Rücktritten und einem schnellen Karriereende rechnen. Lehrstuhlinhaber, Sportathleten, Studenten, Journalisten, Schriftsteller, Künstler spüren die Konsequenzen. Moderatoren, Politiker, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, ja selbst der UN-Generalsekretär werden zum Rücktritt aufgefordert, weil sie sich nicht dem herrschenden Meinungsdiktat unterwerfen, sondern dem Ruf ihres Gewissens folgen und Menschlichkeit demonstrieren. Heute herrscht ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesener Denk- und Meinungszwang. Es scheint, als wenn es hierzulande nicht um das Leid der Menschen und unser Mitgefühl mit allen(!) Opfern ginge, sondern allein um die Deutungshoheit, die Abwertung der Gegenseite und eine Schuldbekenntniskultur, die ihresgleichen sucht. Der in Tel Aviv geborene Publizist und Historiker Michael Wolffsohn bezeichnet diese über alle politischen Parteien hinweg dominierende Schuldkultur und das Kollektivschuldbekenntnis als „routinierte Sühnerituale“. Eine „ewige Schuld“ aber kann es laut Wolffsohn nicht geben.

Kein Generalverdacht gegen Muslime

Wohin diese pauschale Verurteilung führen kann, lässt sich leicht erahnen, wenn man sich die Situation der Muslime nach dem 11. September ansieht. Auch ein Großteil der Muslime in Deutschland verurteilt die mörderischen Taten der Hamas. Man muss nur die Erklärungen der islamischen Religionsverbände und Gemeinschaften studieren, die die Untaten der Hamas klar verdammen. Sowohl Juden als auch Muslime müssen ohne Angst in Deutschland leben können.


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