26 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica (dpa)
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Ich mag den Monat Juli nicht. Dieser Monat erinnert mich jedes Jahr aufs Neue daran, was ich verloren habe. Ich wurde 1988 in Srebrenica geboren. Vor 26 Jahren wurde in dieser Stadt ein Genozid an den bosnischen Musliminnen und Muslimen verübt. Dieses Verbrechen wurde von serbischen Faschisten begangen.

Vor dem Krieg in Bosnien haben wir dort alle friedlich miteinander gelebt. Man hat keinen Unterschied zwischen den Religionen gemacht.

Es fand immer ein reger Austausch statt. Familien lebten von Generation zu Generation friedlich miteinander.

Das änderte sich alles im März 1992, als sich Bosnien von Jugoslawien löste.

Plötzlich war alles anders

Ich bin in einem kleinen Dorf namens Bljeceva in der Nähe der serbischen Grenze im Nordosten Bosniens groß geworden. Als der Krieg bei uns ausbrach, war ich nicht einmal vier Jahre alt.

Beim ersten Angriff am 6. Mai 1992 fielen annähernd tausend Granaten auf unser Dorf. Bei diesem Angriff wurde unser Dorf fast vollkommen zerstört. Es gab viele Tote, darunter auch mein Urgroßvater.

Von diesem Tag an wurden wir fast täglich entweder bombardiert oder von Scharfschützen beschossen.

Unsere Toten konnten wir nur nachts begraben, ohne irgendeine religiöse Zeremonie. Sogar die Beerdigungen fanden unter Lebensgefahr statt. Keiner hätte sich je vorstellen können, dass der Konflikt bei uns so eskalieren würde. Bis UN-Truppen 1993 die Schutzzone Srebrenica errichteten, standen die umliegenden Gebiete ständig unter Beschuss. Wir hatten kaum etwas zu essen, die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Es gab keine medizinische Versorgung. Wir waren total von der Außenwelt abgeschnitten. Unsere Stromversorgung und Informationsversorgungen wie Radio- und Fernsehstationen wurden zerstört.

Meine Mutter ging öfters mit Nachbarn und unseren Soldaten in Nachbardörfer, die aufgegeben worden waren, um dort nach Nahrungsmitteln zu suchen. Diese Aktionen waren öfters lebensgefährlich, da Häuser und die ganze Gegend manchmal mit Minen übersät waren.

Es kam auch vor, dass man sich gegenseitig die Nahrungsmittel gewaltsam weggenommen hat. Viele, die auf diese Beutezüge gingen, waren bewaffnet, meine Mutter nicht. Sie hatte meistens das Nachsehen, da sie sich als unbewaffnete Frau nie durchsetzen konnte.

Nachdem die Schutzzone errichtet worden war, wurde die dort lebende Bevölkerung entwaffnet. Das heißt, wir waren völlig auf den Schutz der UN-Truppen angewiesen. Trotz deren Anwesenheit verbesserte sich die Situation kaum. Srebrenica war überfüllt mit Flüchtlingen, die kaum versorgt werden konnten. Die Menschen lebten teilweise auf der Straße, Nahrung gab es wenig. Wir waren verdreckt, es gab kaum sauberes Trinkwasser und wir hatten alle möglichen Krankheiten.

Viele Flüchtlinge gingen täglich drei Stunden zu Fuß in unser Dorf. Dort bettelten sie um Nahrungsmittel. Es gibt nichts Schlimmeres, als Menschen in einer solchen Lage zu sehen und nicht helfen zu können, weil wir selbst nichts zu essen hatten.

Für mich als Kind war der Krieg meine neue Realität. Ich kannte nichts anderes. Mein Alltag bestand daraus, dass ich in einem Augenblick draußen spielte und im nächsten um mein Leben rannte, weil entweder Scharfschützen auf uns schossen oder in der Nähe Granaten abgefeuert wurden.

Es war Genozid

Im Juli 1995 kam der Krieg dann zu seinem traurigen Höhepunkt.

Wir gehörten zu den Letzten, die nach Potocari kamen, nachdem uns einer unserer Soldaten gesagt hatte, Srebrenica fiele und wir sollen zur UN-Basis gehen. Dort würden wir Weiteres erfahren.

Als wir dort ankamen, erwartete uns eine gigantische Menschenmenge. Es strömten immer mehr Menschen aus Srebrenica hinzu. Ein Onkel von mir, der eine geistige Behinderung hatte und vom Roten Kreuz betreut wurde, wurde ebenfalls nach Potocari geschickt, da sie ihn nicht mehr beschützen konnten. Meine Mutter fand nach und nach all meine Verwandten, während wir auf die serbischen Truppen warteten. Nach kurzer Zeit hörte man panische Schreie.

Dann standen sie vor uns. Die Cetniks.

Als Kind hatte ich mir nie vorstellen können, wie diese “Cetniks” aussehen würden. Ich dachte immer, es wären irgendwelche Monster mit Hörnern, die Menschen töten. Aber es waren Menschen, wie wir.

Wir hörten dann die Durchsage vom Mladic, dass wir aus Srebrenica deportiert würden. Leute, die bleiben wollten, könnten bleiben. Ihnen würde nichts passieren.

Das war eine Lüge.

Meine Mutter, mein Bruder und ich wurden am nächsten Tag aus Srebrenica deportiert.

Vor unseren Augen fingen die Cetniks an, Männer und Frauen zu separieren. Auf der linken Seite standen die serbischen Truppen, auf der rechten die UN-Soldaten. Am Straßenrand die separierten Männer.

Wir wurden von meinen Großeltern getrennt. Mein Großvater war einer der 8372 Menschen, die im Juli 1995 umgebracht wurden. Seine sterblichen Überreste wurden 2007 in zwei separaten Massengräbern gefunden. Ich habe unzählige Verwandte und mein Zuhause verloren.

Am 8. Juni 2021 wurde Srebrenica offiziell als Völkermord deklariert und einer der größten Verbrecher, Ratko Mladic, lebenslänglich verurteilt.

Dieses Urteil bedeutet nichts, solange der Genozid in Srebrenica nicht weltweit als solcher benannt und anerkannt wird. Damit sich unsere Geschichte niemals mehr wiederholen möge.

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