06.12.2021, Österreich, Wien: Karl Nehammer (ÖVP), Bundeskanzler von Österreich, spricht während der Amtsübergabe im Bundeskanzleramt. (dpa)
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Es dürfte schwierig sein, ein Land auf der Welt zu finden, das innerhalb von sechs Jahren von sechs Regierungschefs regiert wurde. In Österreich, zuletzt durch Korruptionsskandale hochrangiger Politiker erschüttert, stehen politische Turbulenzen, die eben nicht nur mit der Covid-19-Pandemie begründet sind, immer wieder ganz oben auf der Tagesordnung.

Der ehemalige Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz hat zwei Monate nach seinem Rücktritt als Kanzler nun auch seinen kompletten Rückzug aus der Politik verkündet. Als Grund für seinen nicht wirklich überraschenden Abschied nannte Kurz seinen Wunsch, sich mehr Zeit für sein neugeborenes Kind und seine Familie zu nehmen. Diese Rechtfertigung erscheint nicht sonderlich glaubwürdig. Dass sich nach Kurz auch Finanzminister Gernot Blümel aus dem gleichen Grund von der politischen Bühne zurückzieht und dies just in dem Moment, in dem sich in laufenden Prozessen mit den Justizvertretern des Landes auseinandersetzen, stellt die Glaubwürdigkeit der Begründungen umso mehr in Frage. Der aggressive Politikstil, den Kurz bei seinem Amtsantritt in der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ab 2017 verfolgte, zeugte ebenso von seinem Ehrgeiz, an die Macht zu kommen. Aus diesem Grund ist es wohl nicht von der Hand zu weisen, dass der wahre Grund dieser Rücktritte darin liegt, dass aus den Korruptionsermittlungen weitaus negativere Entwicklungen erwachsen können.

Sebastian Kurz übergibt mit dieser Entscheidung, nachdem er sich 2017 als neuer Parteichef der ÖVP die alleinige Autorität über Personal- und Koalitionsentscheidungen gesichert hatte, die Zügel wieder in die Hände der als Machtfaktoren wichtigen Landesobmänner und -frauen. Die Turbulenzen innerhalb der ÖVP nach dieser Entwicklung veranlassten ebenso Bundeskanzler Alexander Schallenberg, auch er aus dem engen Kreis um Kurz, seinen Rücktritt zu erklären, womit politisch die Karten neu zu verteilen sind. Bei der Bundesvorstandssitzung der ÖVP am Freitag wurde der ehemalige Innenminister Karl Nehammer als Parteivorsitzender und Bundeskanzlerkandidat nominiert. Neben Nehammer wird Alexander Schallenberg wieder das Auswärtige Amt übernehmen, neuer Innenminister wird demnach Gerhard Karner. Während darüber hinaus entschieden wurde, dass Magnus Brunner auf Finanzminister Gernot Blümel folgt, wird Martin Polaschek neuer Bildungsminister. Bei den Grünen, Juniorpartner der Koalitionsregierung, standen keine Änderungen bei ihren Regierungsmitgliedern an, sodass die neuen Namen der Regierungsmannschaft von der ÖVP erwartungsgemäß von Präsident Alexander van der Bellen vereidigt wurden.

Ist die Forderung der Opposition nach vorgezogenen Neuwahlen realistisch?

Nach dem Rückzug von Sebastian Kurz wurden im Parlament von den dort vertretenen Oppositionsparteien Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen laut. Da für diese Forderung keine zahlenmäßige Mehrheit im Parlament besteht, wird die Haltung der ÖVP und der Grünen für die Regierungsbildung entscheidend sein. Der Umstand, dass die ÖVP in Meinungsumfragen zwischenzeitlich von 37% auf 23% hinter die SPÖ auf den zweiten Platz zurückgefallen ist und der Juniorpartner der Koalition, die Grünen, bei 12% stagniert, mindern die Wahrscheinlichkeit vorgezogener Neuwahlen. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner nur sehr verhalten vorgezogene Neuwahlen gefordert hat. Rendi-Wagner sprach in ihren jüngsten Äußerungen diesbezüglich zwar die Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr aus, erklärte aber auch, Karl Nehammer „eine Woche“ geben und sich „dringend mit ihm treffen“ zu wollen, was andeutet, dass die SPÖ, zumindest unter der Führung von Rendi-Wagner, derzeit eigentlich für vorgezogene Neuwahlen noch nicht bereit ist. Es scheint, dass Rendi-Wagner auf Zeit spielt, um sowohl die SPÖ in den Meinungsumfragen als auch ihre eigene Autorität innerhalb der Partei zu konsolidieren. Ihr Rivale, der burgenländische Ministerpräsident Hans Peter Doskozil, hofft mit der Forderung nach sofortigen Neuwahlen das parteiinterne Rennen für sich zu entscheiden und will wohl die günstige Stimmung nicht verstreichen lassen. Der Wiener Landesobmann Michael Ludwig, die eigentliche Kraft hinter Rendi-Wagner, wartet ebenso auf geeignete Bedingungen für die Übernahme der Parteiführung und die Kandidatur für das Bundeskanzleramt, hat sich aber in einem Interview mit der Zeitung Kurier hinter die Vorsitzende gestellt und statt vorgezogener Neuwahlen gefordert, die österreichische Politik solle sich lieber auf den Kampf gegen die Covid-19-Epidemie konzentrieren. Diese Aussagen sind als offensichtlichstes Indiz dafür zu werten, dass es in der SPÖ derzeit nicht sonderlich gut läuft. Daher wäre es eine große Überraschung, wenn die Forderungen von FPÖ und NEOS nach vorgezogenen Neuwahlen, beide in vergleichsweise bequemen Ausgangspositionen, Resonanz in der österreichischen Politik finden würden.

ÖVP stellt sich neu auf

Als Bundeskanzler wurde der ehemalige Innenminister Karl Nehammer angelobt, der im Einvernehmen mit den Landesobmännern und -frauen der ÖVP auch den Vorsitz der ÖVP übernehmen soll. Nehammer hat dabei die besondere Unterstützung von Johanna Mikl-Leitner, ebenfalls ehemalige Innenministerin und Landeshauptfrau von Niederösterreich, was Folgen für die nahe Zukunft der ÖVP haben wird. Obwohl Nehammer erklärt hat, er werde die von Kurz zu Ungunsten der Landesobmänner und -frauen gebündelten Befugnisse nicht in Anspruch nehmen, ist man in Österreich ohnehin der Meinung, dass diese Befugnisse nur auf dem Papier existieren und in der Praxis nicht umgesetzt werden.

Der Rückgang der ÖVP in Meinungsumfragen auf 23%, also auf einen Platz hinter der SPÖ, sowie die Tatsache, dass die FPÖ mit 21% ebenfalls einen geringen Abstand hat, verdeutlichen einmal mehr die Bedeutung von Nehammers anstehenden Leistungen. Die ihm zugeschriebene Nähe zu Positionen der FPÖ, der Partei, die in puncto Wählerwanderung von und zur ÖVP eine wichtige Rolle spielt, kann in diesem Zusammenhang zur Folge haben, dass die Auswirkungen der aktuellen Turbulenzen für die Partei überschaubar bleiben. Auch wenn Nehammer Sebastian Kurz nahestand, gehörte er nicht zu seinem unmittelbaren inneren Machtkreis, so dass er – im Konsens mit den Landesobmännern und -frauen, denen es gelungen ist, die an Kurz 2017 übergebenen Zügel wieder in die eigenen Hände zu nehmen – zu einer stabilisierenden Kraft innerhalb der Partei werden könnte. Allem Anschein nach wird Nehammer versuchen, die alte Farbe der ÖVP, Schwarz, mit der von Kurz im Rahmen des neuen Images der Partei eingeführten Farbe Türkis zu kombinieren. Ob ihm dies gelingen wird oder nicht, wird sich erst in Meinungsumfragen zeigen. Gelingt es Nehammer. die Landesobmänner und -frauen von seinen Erfolgen zu überzeugen, könnte er seine Position halten. Andernfalls erwarten die ÖVP neue Umwälzungen, die einer stabilen Regierung den Boden entziehen und Entwicklungen auslösen würden, die unweigerlich vorgezogenen Neuwahlen Tür und Tor öffnen.

Die Folgen der Entwicklungen für die türkische und muslimische Diaspora in Österreich

Trotz der jüngsten Umwälzungen in Politik und Administration bleiben Fremden- und Islamfeindlichkeit im Land davon leider unberührt. Die Entwicklungen zeigen, dass sich diese Situation auch nicht sonderlich verändern wird. Zunächst einmal ist die Nominierung von Karl Nehammer als Parteivorsitzender und Bundeskanzler durch die ÖVP an sich keine positive Entwicklung für die türkische und muslimische Diaspora in Österreich. Entsprechend macht sich das Desinteresse gegenüber der Politik, welches sich in der österreichischen Jugend zunehmend manifestiert, inzwischen auch in der türkischen und muslimischen Diaspora bemerkbar. Das Desinteresse dieser Bevölkerungsgruppe, die ein wichtiger Bestandteil der österreichischen Gesellschaft ist, hat, auch verstärkt durch strukturelle Benachteiligungen, sprachliche Mängel bzw. kulturelle Unterschiede und die Adaptation von islamophoben Positionen seitens nahezu aller politischen Parteien, einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Gibt es also nichts, was die türkische bzw. muslimisch-türkische Diaspora in Österreich tun kann? Trotz all dieser wenig Hoffnung machenden strukturellen Benachteiligungen ist es wesentlich, dass dieser Teil der Bevölkerung dennoch beharrlich nach Wegen sucht, um eigenen Perspektiven Gehör zu verschaffen. Es ist unbedingt erforderlich, den eigenen Blick auf die Entwicklungen im Land durch Pressemitteilungen, Print- und Onlinemedien sowie die Gründung von Vereinen und NGOs, unabhängig davon, ob klein oder groß, publik zu machen. Auch wenn sie noch nicht die Kraft dazu hat, die Richtung der österreichischen Politik zu bestimmen, sollte die Diaspora zumindest in der Lage sein, den Lauf der Dinge beim Namen zu nennen

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