Die Verlautbarungen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach der Kabinettssitzung am 27. Juni, also unmittelbar vor dem Nato-Gipfel in der spanischen Hauptstadt Madrid, fokussierten sich inhaltlich insbesondere auf die Bekämpfung der Inflation und sollten die Erwartungen einkommensschwacher Bevölkerungsschichten hinsichtlich der Steigerung der Kaufkraft erfüllen. So beinhalteten die verkündeten Beschlüsse Erhöhungen für Rentner und Beamte in Höhe der Inflationsrate, und erstmals für den Juli eines Jahres wurde der Mindestlohn erneut erhöht, was von den Angehörigen der unteren Einkommensschichten positiv aufgenommen wurde. Denn bisher wurde dieser Lohn immer nur im Dezember angepasst. Die Ankündigung einer Anhebung des Mindestlohns wirkt sich unmittelbar auf alle Wirtschaftsbereiche aus. Entsprechend steigen in vielen Branchen der Privatwirtschaft die Erwartungen in Bezug auf die Höhe der anstehenden Lohnanpassungen. Auch die Ankündigung von Erdoğan, die Gehälter der Angestellten zu erhöhen, verspricht eine positive Wirkung für die Gesellschaft, was sich auch auf die Wahlen im kommenden Jahr auswirken wird.
Denn während sich das Land langsam, aber sicher auf die Wahlen im Juni 2023 zubewegt, hat der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien erheblich an Fahrt gewonnen. In diesem Sinne stellt der wirtschaftliche Kontext für die AK-Partei die größte Herausforderung dar. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den aktuellen Umfragen wider. Auch die AK-Partei ist sich bewusst, dass der Satz „die größte Oppositionspartei in Türkiye ist die Küchentopfpartei“, der seit den 90er Jahren immer wieder zitiert wird, um zu erklären, dass die wirtschaftliche Lage in der türkischen Politik gravierende Folgen für alle politischen Kräfte haben kann, jetzt auch die Regierungspartei herausfordert. Auch die Ergebnisse von Meinungsforschungsunternehmen unterschiedlichster politischer Couleur bestätigen diese Einschätzungen. Die wirtschaftliche Lage nimmt in diesen Erhebungen einen der ersten drei Plätze auf der Liste der wichtigsten Herausforderungen von Türkiye ein. Dabei kommen die Schlagworte Lebenshaltungskosten, Wechselkursanstieg, Arbeitslosigkeit und hohe Inflation besonders häufig in den Ergebnissen vor. Präsident Erdoğan zeigt, dass er sich der Ernsthaftigkeit der Thematik schon seit längerem bewusst ist, und wiederholt deswegen den Satz: „Ich kenne die Probleme, und wir werden die Probleme der Wirtschaft wie schon zuvor wieder lösen“. Wie schon in seinen Erklärungen nach der Kabinettssitzung unternimmt er auch darüber hinaus Schritte, um die Herausforderungen des Landes zu meistern.
Wähler der AK-Partei und der MHP
Betrachtet man die Ergebnisse der aktuellen Meinungsumfragen näher, so zeigt sich, dass sich das Wahlverhalten der Wähler der von AK-Partei und MHP gebildeten Allianz eigentlich nicht verändert hat. In Zeiten, in denen sich die Probleme in der Wirtschaft verschärfen, wechselt ein Teil der AK-Partei und MHP-Wähler in die Kategorie der unentschlossenen Wählerinnen und Wähler, die augenblicklich nicht planen, zur Wahlurne zu gehen, aber sich wieder hinter Erdoğan versammeln werden, wenn es zu einer wirtschaftlichen Erholung kommt oder wenn die Wähler etwa eine externe Bedrohung gegen das Land wittern. Der Anstieg des Zuspruchs für Erdoğan nach Beginn des Russland-Ukraine-Krieges unterstreicht dabei die Einstellung, dass man sich in Krisenzeiten, um drohende Risiken zu meistern, um eine starke Führungspersönlichkeit versammelt. Ein weiterer Grund dafür, dass sich dieses Verhalten bei den Bürgern immer wieder feststellen lässt, ist die Tatsache, dass Erdoğan ein Kapitän ist, der schon mehrfach unter Beweis gestellt hat, dass er das Schiff in schwierigen Zeiten in einen sicheren Hafen manövrieren kann. So wurden die wiederkehrenden Attacken auf Staat und Bürger von Türkiye durch Terrororganisation wie PKK, DEASH und FETÖ unter der Führung von Erdoğan minimiert. Während das Schlagwort „Terror“ noch vor 5-6 Jahren in den Umfragen auf den ersten beiden Plätzen in der Liste der wichtigsten Probleme rangierte, ist die Tatsache, dass dieses Thema heute kaum noch eine Erwähnung findet, eigentlich ein großer Erfolg der von Erdoğan angeführten Regierungen und zeigt, dass den Terrororganisationen ein vernichtender Schlag versetzt wurde.
Erdoğans Schachzüge
Die positiven Resultate der unter der Ägide von Erdoğan durchgeführten Militäroperationen durchkreuzten die Pläne derjenigen, die den syrischen Bürgerkrieg auch nach Türkiye tragen wollten, und öffneten die Tür für den Aufbau von Sicherheitszonen für die sichere Rückkehr von Syrern. So ließe sich die Liste der Erfolge weiter verlängern, und es steht zu erwarten, dass sich dies auch für die derzeitigen wirtschaftlichen Herausforderungen wiederholen wird. Unter der Führung von Erdoğan erlebte die türkische Wirtschaft die stärksten Phasen ihrer jüngeren Geschichte, und das Pro-Kopf-Einkommen stieg in dieser Zeit am nachhaltigsten. Wer diese jüngere Geschichte näher betrachtet, sieht deutlich, dass sich die wirtschaftlichen Indikatoren unter Erdoğan insgesamt verbessert haben. Diese Tatsache ist auch der Grund dafür, dass sich die religiös, nationalistisch, konservativ und liberal eingestellten Wähler, die einen Großteil der Wählerschaft der Regierungsallianz ausmachen, von Erdoğan nicht abwenden, auch wenn sie von Zeit zu Zeit Unmut äußern.
Zweifellos bedeutet diese Momentaufnahme nicht, dass es für die Regierungsallianz bei den Wahlen 2023 einfach werden wird. Im Gegenteil steht eine schwierige und umkämpfte Wahl bevor. Dennoch suchen die Wähler augenscheinlich keinen neuen Hafen. Auch deshalb versucht die von Erdoğan geführte AK-Partei zu zeigen, dass nur sie die aktuellen Probleme mit der Erfahrung lösen kann, die sie in der Vergangenheit gewonnen hat. Es ist bemerkenswert, wie auch Meinungsumfragen bestätigen, dass mehr als 70 Prozent der derzeit unentschlossenen Wähler, die etwa 25 Prozent der Wähler ausmachen, dem religiös/nationalistisch/konservativ/liberalen Lager zugeschrieben werden und es dementsprechend Anzeichen gibt, die bei einer Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Rückkehr zur AK-Partei erwarten lassen. Letztlich bedeutet dieser Umstand, dass sich diese Wählerschaft nicht endgültig von der AK-Partei losgesagt hat, sondern Verbesserungen in bestimmten Fragen erwartet, insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation. Ein Blick auf die Schachzüge eines erfahrenen und intuitiven Politikers wie Präsident Erdoğan zeigt, dass er das Spiel noch immer nach den Regeln der Kunst spielt. Während die Regierung außenpolitisch harte Prüfungen durchläuft und mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, die auch durch den Einbruch der Weltwirtschaft ausgelöst wurden, bemüht sie sich, ihre Wählerschaft zu bewahren, indem sie die richtigen Themen anspricht.
Die Opposition hegt hohe Erwartungen
Die politischen Parteien, die angeführt von CHP und IYI-Partei einen Oppositionsblock bilden, gehen trotz unterschiedlicher politischer Programme mit einem großen Anspruch in die anstehenden Wahlen. In den Äußerungen des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu und der Vorsitzenden der IYI-Partei, Meral Akşener, wird dementsprechend ein Wahlsieg bei den Wahlen 2023 als einzige Option postuliert. Die Oppositionsparteien schätzen ihre Chancen als günstig ein, obwohl sie derzeit noch keinen nennenswerten Stimmenzuwachs verzeichnen können. In diesem Zusammenhang sind die Entwicklungen bei der Opposition gesondert zu analysieren.