Am 22. Dezember des Vorjahres erteilte die türkische Impfstoff-Prüfbehörde TİTCK die Notfallzulassung für den ersten im eigenen Land produzierten Corona-Impfstoff „Turkovac“. Mit Turkovac hat die Türkei erstmals seit 50 Jahren einen eigenen Impfstoff auf Antigen-Basis entwickelt. Als Produktionsstandort für ein Vakzin fungierte die Türkei zuletzt vor 24 Jahren.
Im Interview mit TRT Deutsch zieht Prof. Erhan Akdoğan, der Präsident der türkischen Gesundheitsinstitute (TÜSEB), Bilanz über den Entwicklungsprozess und die Erfahrungen der ersten Monate.
Sehr geehrter Herr Akdoğan, der Impfstoff TURKOVAC, der am 22. Dezember im Wege einer Notfallgenehmigung zugelassen wurde, wird in der Türkei im Rahmen der Bekämpfung des Coronavirus nunmehr in großem Umfang eingesetzt. Welche Zwischenbilanz können Sie hinsichtlich der Anwendung des Impfstoffs in diesen ersten Wochen ziehen?
Als TÜSEB haben wir bereits in den ersten Tagen der Epidemie mit eigenen Impfstudien begonnen. Es war nicht einfach, diesen Impfstoff zu entwickeln, dann die klinischen Prüfungen einzuleiten, die einzelnen Phasenstudien durchzuführen, die Massenproduktion vorzubereiten, die Notfallgenehmigung (AKO) zu erhalten und in die Produktionsphase überzugehen – sowie all diese Prozesse zu organisieren bzw. umzusetzen.
Uns war bewusst, dass während dieses langwierigen Prozesses viele Bürger auf TURKOVAC gewartet haben. Diese Erwartungshaltung unserer Mitbürger und das Vertrauen unserer Nation in unseren heimischen Impfstoff waren unsere größte Motivation. Als wir für die Phase-3 des Entwicklungsprozesses über die digitale Gesundheitsplattform e-Nabız nach Freiwilligen suchten, betrug die Zahl der Personen, die sich über das System meldeten, ungefähr zwei Millionen. Hier haben wir zum ersten Mal das immense Vertrauen unserer Bevölkerung in unseren Impfstoff gesehen.
Nach der Notfallgenehmigung im Dezember verteilten wir die ersten Chargen an unsere Stadtkrankenhäuser und diese begannen umgehend mit der Anwendung. Die erste Charge war innerhalb kürzester Zeit verimpft. Das Vertrauen und auch das Interesse unseres Personals an unserem eigenen Impfstoff waren überwältigend. Die zweite Charge war etwas größer und am 8. Februar 2022 begann die Verteilung von TURKOVAC in allen unseren 81 Provinzen. Als TÜSEB verfolgen wir diesen Implementierungsprozess ebenso wie den Produktionsprozess genau und erhalten sehr positive Rückmeldungen. Wir können sagen, dass unsere Mitbürger in allen Teilen Anatoliens sehr an unserem Impfstoff interessiert sind.
Die Türkei gehört zu den wenigen Ländern, die ihren Kampf gegen das Coronavirus auch durch die Entwicklung eines eigenen Impfstoffs führen. Welche Bedeutung hat dieser Erfolg für die Türkei und wie ist dieser zu erklären?
Mit TURKOVAC hat die Türkei erstmals seit 50 Jahren einen Impfstoff aus Antigen entwickelt und diesen nach 24 Jahren wieder selbst produziert. Es besteht kein Zweifel, dass dies eine sehr wichtige wissenschaftliche Errungenschaft für unser Land ist. Darüber hinaus hat die Thematik auch strategische, finanzielle und technologische Dimensionen. Die COVID-19-Pandemie hat uns weltweit vor Augen geführt, dass Staaten über leistungsstarke Gesundheitsinfrastrukturen und -ökosysteme verfügen müssen, um materielle und immaterielle Schäden zu minimieren. In den letzten zwei Jahren gab es in allen Teilen der Welt viele Probleme in Bezug auf den Zugang zu Masken, Impfstoffen und medizinischen Geräten, die für Diagnose und Behandlung der Krankheit erforderlich waren und sind.
Diese Probleme haben das Bewusstsein für die Bedeutung des Ausbaus eigener Kapazitäten im Gesundheitsbereich geschärft. Ebenso wie in der Rüstungsindustrie, wo in den letzten 15 Jahren der Anteil der heimischen Industrie von 25 Prozent auf 80 Prozent gesteigert werden konnte, gelang uns die gleiche Steigerung im Gesundheitsbereich. Die Folgen der Pandemie haben uns die Notwendigkeit dessen sehr deutlich vor Augen geführt. Wenn wir unsere eigenen Technologien im Gesundheitsbereich entwickeln, insbesondere bei Produkten von strategischer Bedeutung wie etwa Impfstoffen, wird unsere Abhängigkeit von ausländischen Produzenten entsprechend abnehmen. Darüber hinaus wird man als Land mit wachsender Macht und größerem Einfluss auch noch in die Lage versetzt, diese Technologien selbst schnell und unkompliziert an bedürftige Länder zu liefern.
In diesem Sinne spielte TÜSEB als Institution eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung unseres inländischen Impfstoffs, der wissenschaftlichen und finanziellen Unterstützung in den Phasen der klinischen Prüfung und der Vorbereitung der Massenproduktion. TURKOVAC ist im Grunde das Ergebnis eines von TÜSEB unterstützten, finanzierten und für die Massenproduktion freigegebenen Prozesses. Hier gab es eine sehr fruchtbare Kooperation während des gesamten Prozesses. Wir haben die Impfstoffentwicklung mit dem Kooperationsmodell „Public-University-Industry“ umgesetzt und halten mit TURKOVAC das Ergebnis dieses kooperativen Ansatzes in Händen. Mit allen relevanten Abteilungen unseres Gesundheitsministeriums konnten wir eine enge Zusammenarbeit aufbauen.
Von Beginn des Prozesses an haben unter dem Dach des TÜSEB unsere Wissenschaftler unter Leitung von Prof. Dr. Aykut Özdarendeli und seinem Team aus Forschung und Entwicklung mit den klinischen Forschungsteams und dem Produzenten in voller Koordination zusammengearbeitet. Darüber hinaus haben wir die Vorteile, Impulse und positiven Auswirkungen unseres sehr stark digitalisierten Gesundheitsökosystems gesehen, das unser Land insbesondere während der Pandemiezeit ausgebaut hat. Wir konnten den gesamten Prozess der TURKOVAC-Entwicklung mit verschiedenen digitalen Plattformen unseres Gesundheitsministeriums wie beispielsweise „E-Nabız, ASILA, HES“ genau nachverfolgen. So gesehen ist unser Erfolg darin begründet, dass dieses Gesamtsystem gemeinsam und in Abstimmung mit allen Beteiligten betrieben werden konnte.
Bisher wurden in der Türkei hauptsächlich Sinovac- und Pfizer/Biontech-Impfstoffe verimpft. Was sind die Unterschiede zwischen diesen Impfstoffen und dem TURKOVAC-Impfstoff?
Die in unserem Land verwendeten Impfstoffe waren entweder mRNA- oder Tot-Impfstoffe, wie in den Nachbarländern und im Rest der Welt. Während die mRNA-Impfstofftechnologie im Grunde eine biologische „Botschaft“ an die Zelle übermittelt, um eine Immunität zu erzeugen, sind Tot-Impfstoffe eine Immunisierungsmethode, die mit abgeschwächten bzw. inaktivierten Viruspartikeln die gewünschte Wirkung entfaltet. Unser TURKOVAC-Impfstoff ist eines von sieben Projekten, die Unterstützung im Rahmen des von TÜSEB organisierten Impfstoff-Entwicklungs-Unterstützungsprogrammes zur Bekämpfung von COVID-19 beantragt haben, welches wiederum im März 2020 gestartet wurde.
Unter den inaktiven Impfstoffprojekten kam TURKOVAC am schnellsten voran und hat das Rennen unter den TÜSEB-Projekten sozusagen für sich entschieden. Die vorhandene wissenschaftliche Kompetenz zur Herstellung von inaktiven Impfstoffen in der Welt und ebenso in unserem Land hat uns letztlich an diesen Punkt gebracht.
Sind die Impfungen gegen COVID-19-Varianten wirksam, wenn Personen, die beispielsweise mit Sinovac oder Biontech geimpft wurden, bei der Boosterimpfung TURKOVAC erhalten oder diejenigen, die den TURKOVAC-Impfstoff erhalten haben, mit Sinovac bzw. Biontech geboostert werden? Welche Beobachtungen haben Sie bisher gemacht?
Tag für Tag werden neue wissenschaftliche Studien veröffentlicht, um die klinischen Daten auf internationaler Ebene aufzuarbeiten und die wirksamste Schutzmethode gegen das COVID-19-Virus zu entdecken. Aus diesem Grund führt TÜSEB auch Untersuchungen zu TURKOVAC selbst und als Boosterimpfung nach Sinovac- und Biontechimpfungen durch. Basierend auf den bisher verfügbaren Daten schützt TURKOVAC wirksam gegen die bekannten Varianten von Wuhan und Delta. Betrachtet man die von unserem Ministerium in diesem Prozess veröffentlichten intensivmedizinischen Hospitalisierungsraten, ist der positive Effekt der Boosterimpfungen in unserem Land deutlich zu beobachten.
Welche Nebenwirkungen wurden bisher bei mit TURKOVAC geimpften Personen beobachtet? Gibt es Unterschiede zu den Nebenwirkungen anderer Impfstoffe?
Bei der Beantragung der Notfallgenehmigung bei den zuständigen Behörden wurden alle bekannten klinischen Daten von TURKOVAC sehr detailliert vorgelegt und keine nennenswerten Nebenwirkungen festgestellt. Derzeit werden weiterhin flächendeckend Rückmeldungen zu Nebenwirkungen zusammengetragen. Über die schon bekannten Armschmerzen, Kopfschmerzen und Müdigkeitserscheinungen sind bisher keine schwerwiegenden Nebenwirkungen bekannt geworden.
Die Entdeckung des Biontech-Impfstoffs durch zwei türkische Wissenschaftler hat viele Türken stolz gemacht und dazu motiviert, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Auf der anderen Seite gibt es auch diejenigen, die den Impfstoff in der Türkei ablehnen. Was möchten Sie diesen Menschen sagen?
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass man sich ohne Wissen keine Meinung bilden kann. Daher ist es notwendig, die richtigen Informationen einzuholen, bevor man sich zur Thematik äußert. Die Herstellung von Impfstoffen erfordert eine eigene Expertise wie auch die klinische Forschung. Jede Phase des Prozesses erfordert ein besonderes Fachwissen. Bevor man also eine Meinung äußert, ist es notwendig, genaue Informationen von Experten aus jedem einzelnen Fachgebiet einzuholen.
Im Impfstoffentwicklungsprozess wird der Impfstoff zunächst im Labor entwickelt, dann werden in Phase 1 Studien mit Dutzenden von Menschen durchgeführt und die Sicherheit des Impfstoffs getestet. Dann wird Phase 2 gestartet, wo Studien mit Hunderten von Freiwilligen durchgeführt und die Wirksamkeit des Impfstoffs aufgezeigt werden. Nach diesen Phasen wird die Genehmigung für Phase 3 erteilt. Darüber hinaus werden auch die Genehmigungen unabhängiger Ethikkommissionen unserer Universitäten und Krankenhäuser eingeholt.
Der gesamte klinische Prozess wird kontinuierlich von einem unabhängigen Datenüberwachungsausschuss auf Sicherheit und Wirksamkeit überwacht. Dann wird mit der Zustimmung der zuständigen wissenschaftlichen Institutionen eine Notfallgenehmigung (AKO) von unserer nationalen Behörde, der türkischen Agentur für Arzneimittel und Medizinprodukte (TİTCK), erteilt, die selbst Mitglied in internationalen Organisationen ist und deren Zertifizierungsstandards umsetzt.
Alle Prozesse werden unter Beachtung internationaler Vorschriften umgesetzt. Bevor man sich also gegen einen Impfstoff positioniert, wäre es also wünschenswert, den wissenschaftlichen Hintergrund der Thematik zu verstehen, genaue Informationen von Experten einzuholen und dann erst eine wissenschaftlich fundierte Meinung zu äußern.
Wie ist der Stand der Studien zur Anwendung bzw. Anerkennung von TURKOVAC in anderen Ländern?
Unsere erste Priorität ist es, genügend Impfstoff zu produzieren, um den Bedarf unseres Landes zu decken. Darüber hinaus planen wir die Impfstoffproduktion insbesondere für Länder, die aktuell Schwierigkeiten haben, anderweitig Impfstoffe zu beschaffen. In Bezug auf klinische Forschungsstudien im Ausland führen wir derzeit gemeinsame wissenschaftliche Studien in Ländern wie Aserbaidschan, Pakistan und Kirgisistan durch. Erst kürzlich haben wir unsere Verhandlungen mit Aserbaidschan und Pakistan aufgenommen und unsere Vorbereitungen weitgehend abgeschlossen.
In diesen beiden Ländern wurden große Fortschritte im Hinblick auf den Beginn von Phase-3-Studien mit unserem TURKOVAC-Impfstoff erzielt. Wie auch bei den anderen Impfstoffen weltweit werden auch bei TURKOVAC fortwährend Untersuchungen zur Wirksamkeit des Impfstoffs durchgeführt. Unsere Teams werden demnächst nach Aserbaidschan reisen, um weitere wissenschaftliche Studien zu unserem Impfstoff durchzuführen.