von Ali Özkök & Burcu Karaaslan
Am 23. Juni wurde das Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin eröffnet. Das zentrale Thema der Dauerausstellung ist die Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart.
Über mehrere Jahre hinweg waren teils heftige und geschichtspolitisch überschattete Debatten über Art und Konzept des Gedenkens an die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg geführt worden. Die nunmehrige Endfassung des Projekts ist jedoch überwiegend positiv bewertet worden.
Im Interview mit TRT Deutsch spricht Direktorin Gundula Bavendamm über die Rolle der Vertriebenen in Deutschland nach 1945 und was deren erzwungene Flucht mit anderen großen Wanderungsbewegungen verbindet oder von ihnen unterscheidet.
In der Nachkriegszeit bis in die 2000er Jahre spielten in Ost und West die Vertriebenen und ihre Vertreter eine erhebliche Rolle innerhalb des deutschen Gemeinwesens. Was aber haben die heutigen Jugendlichen und vor allem Menschen aus den Einwanderercommunitys für einen Bezug zu dem Thema Vertreibung nach 1945?
Zunächst ist es wichtig, kurz noch mal zu sagen, dass die Situation der Vertriebenen in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik und in der DDR sehr unterschiedlich war. In der Bundesrepublik konnten sich die Vertriebenen ja zum Beispiel frei artikulieren, denn sie sind als Wählerpotenzial gesehen worden in der Adenauer-Zeit. Sie hatten eine politische Stimme durch die Landsmannschaft und den Bund der Vertriebenen.
Diese öffentliche Präsenz, diese Stimme, die da zu hören war von den Vertriebenen, das gab es so in der DDR nicht, weil sich dort die Menschen sehr schnell assimilieren mussten, weil man auch nur von Umsiedlern gesprochen hat, also eher beschönigend, und weil man auch sehr früh schon unter dem Einfluss Moskaus die Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze der DDR anerkannt hat. Insofern gab es bestimmte Diskussionen, öffentliche Debatten auch für die Medien der populären Kultur so in der DDR nicht.
Wie ordnen Sie moderne Migrationsbewegungen vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ein?
Bei uns stehen im Mittelpunkt große Zwangsmigrationen, große Zwangs-Umsiedlungs-Phänomene in Millionenhöhe, die gegen den Willen der Menschen erfolgen. Das muss man unterscheiden zum Beispiel von der Zuwanderung auch von vielen Menschen, zum Beispiel wie aus der Türkei, aus Griechenland oder Italien in den 1950iger oder 1960iger Jahren, verbunden mit dem Begriff der sogenannten Gastarbeiter. Das ist eine ganz andere Konstellation gewesen.
Ich glaube, was aber zusammenführen kann, ist die Geschichte der Integration. Denn ungeachtet der Frage, aus welchen Gründen oder unter welchen Umständen man nach Deutschland gekommen ist: Was die deutschen Vertriebenen meint oder was vergleichbar ist, ist diese Integrationserfahrung. Wie kommt man als eine Person mit dem Hintergrund einer anderen Geschichte in eine Aufnahmegesellschaft hinein? Was heißt es eben, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden mit unterschiedlichen Graden der Fremdheit? Das muss man auch immer wieder sagen. Es ist jedoch was anderes, ob vielleicht ein Mensch aus Anatolien in den 1960iger Jahren nach Deutschland kommt und sich integriert, oder ob eine Deutsch sprechende Person aus Schlesien 1945 nach Berlin kommt.
Ich kann mir vorstellen, dass die meisten gar nicht wissen, dass es zu großen Fluchtbewegungen oder Vertreibungsphänomenen der Deutschen gekommen war.
Die EU-Erweiterung und die Freizügigkeitsregeln haben für manche überlebende Vertriebene oder deren Nachkommen zumindest die Chance eröffnet, in ihre frühere Heimat in Schlesien, Pommern, das südliche Ostpreußen usw. zurückzukehren. Wie viele haben davon am Ende tatsächlich Gebrauch gemacht?
Eine ganze Menge. Wir haben ja mit Menschen zu tun der zweiten, dritten, jetzt auch schon der vierten Generation. Die eben aufgrund ihrer Familiengeschichte eine Verbindung zu diesem Thema der Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges haben.
Direkt statistisch in absoluten Zahlen ist das schwierig zu sagen, aber ich glaube, wenn wir heute sagen, dass ungefähr ein Drittel der heutigen bundesrepublikanischen Gesellschaft mit deutschem Hintergrund noch eine Verbindung hat zum Thema Flucht und Vertreibung, dann ist davon die Hälfte tatsächlich auch mal in die Herkunftsgebiete gereist.
Das fing schon in den 1970iger, 1980iger Jahren an, als es in der Entspannungspolitik etwas einfacher war, in diese Länder zu reisen. Und natürlich hat es dann durch das Ende des Kalten Krieges, durch den Fall des Eisernen Vorhanges und durch die EU-Osterweiterung noch einmal viele Erleichterungen gegeben. Deswegen glaube ich, dass viele damals in ihre Länder gereist sind, um zu sehen, wo ihre Wohnungen einmal waren.
Halten Sie es für möglich, dass die Erinnerung an die Vertreibungsschicksale der Jahre nach 1945 helfen kann, in der breiteren Bevölkerung mehr Empathie für Geflüchtete aus heutigen Kriegsgebieten zu wecken? Oder waren auch damalige Vertriebene – obwohl sie eigentlich formal noch aus dem gleichen Staat stammten – schon mit Vorbehalten in den Ankunftsländern konfrontiert?
Das waren sie sehr wohl. Es gab vielleicht eine längere Zeit diese Auffassung, dass es leicht gewesen sein könnte, weil ja Deutsche zu Deutschen kamen. Wir wissen aber auch seit einigen Jahren durch die Forschung, dass die These eigentlich nicht zu halten ist. Es gab erhebliche soziale Konflikte. Zunächst in den vier Besatzungszonen und dann später in den beiden deutschen Teilstaaten zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Neuankömmlingen. Wir sprechen ja von 12,5 Millionen Menschen, die ab 1945 im Zuge von mehreren Jahren in die Besatzungszone gekommen sind. Also ein riesiger Bevölkerungszusatz und es gab Konflikte aufgrund der Lage, in der Deutschland damals war.
Das Land war kriegszerstört, es gab keine Infrastruktur, es gab einen eklatanten Mangel an Lebensmitteln und vor allem an Wohnraum. Es gab aber auch kulturelle Vorurteile. Die Menschen, die aus dem Osten kamen, haben oft Dialekte gesprochen, die man hier gar nicht verstanden hat. Ihre Religion hat eine ganz große Rolle gespielt, weil oftmals Katholiken in protestantische Regionen gekommen sind oder Protestanten in katholische, die am Anfang gar nicht ihren Glauben praktizieren konnten.
Also es gab viele Felder, auf denen es Konflikte gegeben hat. Auf der anderen Seite muss man eben sagen, dass die Vertriebenen in ihrer großen Zahl auch einen Beitrag zur deutschen Wirtschaft geleistet haben. Insbesondere natürlich in der Bundesrepublik, weil sie diese mit ihrer Expertise, ihrer Handwerkstradition und mit ihrem Willen sozusagen vorangetrieben haben. Insofern ist das ein ganz wichtiger Aspekt.
Vielen Dank für das Gespräch!