14. Juni 2021: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und US-Präsident Joe Biden bei ihrem Treffen (AA)
Folgen

von Ali Özkök & Burcu Karaaslan Der 1964 geborene Diplomat Matthew Bryza war Botschafter der USA in Aserbaidschan. Er leitet seit 2012 den Think-Tank International Centre for Defense Studies in Tallinn. Darüber hinaus ist er Vorstandsmitglied der Jamestown Foundation, einer verteidigungspolitisch ausgerichteten Denkfabrik in Washington. Mit TRT Deutsch sprach der Diplomat unter anderem über die Entwicklungen im Kaukasus seit dem Bergkarabach-Konflikt, über die türkisch-amerikanischen Beziehungen unter der Administration Biden und die Zukunft der „Drei-Meere-Initiative“. Sehr geehrter Herr Bryza, die Parlamentswahlen in Armenien, die nach dem Bergkarabach-Krieg 2020 stattfinden mussten, endeten mit einem breiten Sieg von Premierminister Paschinjan. Ist dies eine Ablehnung von Revanchismus durch die armenische Öffentlichkeit oder gab es andere Gründe für dieses Ergebnis? Die Wiederwahl von Premierminister Nikol Paschinjan mit einem so großen Vorsprung ist eine große Überraschung. Während des 44-tägigen Krieges gegen Aserbaidschan und unmittelbar danach schien es, als ob er politisch nicht überleben würde. Es gab sogar Berichte über Attentatsversuche. Die Oppositionsgruppen um den Ex-Präsidenten Robert Kocharjan kritisierten Paschinjan sehr für die Art und Weise, wie er den 44-tägigen Krieg mit Aserbaidschan führte - und für die Unterzeichnung der Waffenstillstandserklärung vom 9. und 10. November, die die Rückgabe der zuvor von Armenien besetzten Gebiete an Aserbaidschan festschrieb. Die Tatsache, dass Paschinjan gewonnen hat, und zwar mit mehr als einem oder zwei Punkten Vorsprung vor Kocharjan und seiner politischen Gruppierung, zeigt meiner Meinung nach, dass das armenische Volk den Konflikt mit Aserbaidschan einfach leid ist. Es ist des alten Regimes müde und es ist auch der Rachegelüste müde. Und sie mögen vielleicht nicht begeistert sein von Paschinjan, aber zumindest in ihrer Vorstellung kam er durch eine friedliche Volksrevolution an die Macht, im Zuge derer er demokratische und marktwirtschaftliche Reformen versprach und umzusetzen begann. Ich denke, das ist es, was das armenische Volk will, und ich hoffe, dass Armenien unter Paschinjan jetzt die Chancen nutzen wird. Etwa um nach dem Krieg die Beziehungen mit Aserbaidschan und der Türkei zu normalisieren, die Grenzen vollständig wieder zu öffnen, wie es im letzten Punkt der Waffenstillstandserklärung vom neunten und zehnten November gefordert wird. Und dann Armenien zu erlauben, sich in die regionale Wirtschaft und darüber hinaus zu integrieren, Investitionen anzuziehen, das Wirtschaftswachstum zu stimulieren und Arbeitsplätze zu schaffen.

Wie würden Sie den derzeitigen Ansatz der amerikanischen Diplomatie beschreiben, wenn es um die politische Rolle von Aserbaidschan und der Türkei in der Region geht? Sieht Amerika Aserbaidschan und die Türkei als ein potenzielles Gegengewicht zu Russland?

Auf der höchsten Ebene der amerikanischen Diplomatie steht Aserbaidschan im Moment wohl oder übel nicht besonders im Fokus. Die Vereinigten Staaten wollen in der Tat mit Aserbaidschan, Georgien und der Türkei zusammenarbeiten, um den monopolistischen Ambitionen Russlands in Bezug auf Energie entgegenzuwirken.

Deshalb waren die Vereinigten Staaten seit Mitte bis Ende der 1990er Jahre ein aktiver Unterstützer der Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölpipeline, der Südkaukasus-Erdgaspipeline, der Baku-Supsa-Ölpipeline sowie von Projekten, die Teile Russlands durchqueren. Das Ziel war nie, Russland aus der kaspischen Region zu verdrängen, sondern nur die monopolistischen Ambitionen Russlands einzuschränken und dadurch die Souveränität und Unabhängigkeit Aserbaidschans und Georgiens sowie die Energieunabhängigkeit der Türkei zu sichern.

Wegen Chinas „Belt and Road“-Initiative denke ich, dass Washington diese in hohem Maße als einen Versuch Chinas sieht, große Infrastrukturprojekte zu nutzen. Nicht nur, um Einfluss zu gewinnen, sondern in einigen Fällen auch, um Todesfallen für Länder zu schaffen, die die Kredite, die China für diese Projekte bereitstellt, nicht zurückzahlen können.

Wenn es um die Annäherung der USA an die Türkei geht, gibt es noch einiges zu tun. Die wichtigsten, die schwierigsten Themen sind die Unterstützungen der USA für die Terrororganisation YPG in Syrien oder die Partnerschaft der USA mit der YPG. Und dann der Erwerb der russischen S-400 Luftabwehrraketensysteme durch die Türkei.

Zwei weitere Bereiche, in denen die USA und die Türkei meiner Meinung nach zusammenarbeiten können, sind die Ukraine und die Unterstützung der Ukraine bei der Stärkung ihrer Fähigkeit, russisches militärisches Abenteurertum bei Aggressionen im Schwarzen Meer und speziell in der Ukraine zu verhindern.

Wie hat der Karabach-Krieg die Position Aserbaidschans in der Region verändert?

Der zweite Bergkarabach-Krieg hat die Position Aserbaidschans im Südkaukasus dramatisch gestärkt, was es Aserbaidschan ermöglichte, die vier Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen von vor fast drei Jahrzehnten durchzusetzen. Sie forderten den sofortigen Rückzug Armeniens aus den von Aserbaidschan besetzten Territorien. Das hat Armenien die Fähigkeit genommen, groß angelegte militärische Operationen durchzuführen.

Und der aserbaidschanische Sieg im zweiten Bergkarabach-Krieg hat die moralische Autorität Aserbaidschans in der Art und Weise gestärkt, wie es den Krieg geführt hat: indem es die Militäroperation gestoppt hat, nachdem Aserbaidschan Şuşa zurückerobert hatte, indem es humanitäre Hilfe für die Armenier erlaubte, die in Bergkarabach verblieben sind und indem es Armenien zusätzliche zehn Tage erlaubte, die Provinz Kalbadschar ebenfalls zu verlassen.

Aserbaidschan ermutigte ebenso zur Wiederherstellung der Beziehungen Armeniens zu Aserbaidschan und zur Türkei. Ich denke, all diese Schritte Aserbaidschans stärken das Ansehen des Landes in der internationalen Gemeinschaft.
Die Trump-Administration hat einige Anstrengungen unternommen, um die
„Drei-Meere-Initiative“ auszubauen. Wird Washington noch Unterstützung für die 3SI leisten und werden die Türkei und Aserbaidschan potentielle Partner in diesem Projekt sein?


Washington wird die „Drei-Meere-Initiative“ unter der Biden-Administration auf jeden Fall weiter unterstützen. Aber Sie wissen, dass das jetzt kein vorrangiges Projekt ist.

Die „Drei-Meere-Initiative“ ist also etwas, um das sich Spezialisten kümmern, Leute, die sich wirklich auf Europa konzentrieren. Und Sie wissen, dass das die höchste Ebene des Außenministeriums im Stab des Nationalen Sicherheitsrates ist. Es ist keine Top-Priorität der Vereinigten Staaten, aber es ist ein wichtiges Projekt.

In der Tat gab es gerade letzte Woche ein Gipfeltreffen der „Three Seas Initiative“ in Sofia. Es war kein hochrangiger US-Minister oder US-Teilnehmer dabei, der US-Außenminister Blinken war nicht da, aber es waren trotzdem relativ hochrangige Leute dabei. Die USA in Washington haben keine Meinung darüber, ob die Türkei und Aserbaidschan Partner in der „Drei-Meere-Initiative“ sein werden. Das ist Sache der Türkei und Aserbaidschans. Es wäre natürlich von Vorteil, wenn sich die Leute in Washington auf diese Dinge konzentrieren würden.

Die Türkei verkauft jetzt Drohnen an Polen; wie bewertet die US-Außenpolitik die Entwicklung der Türkei als Partner in der Region?

Ich denke, dass die Zusammenarbeit der Türkei mit der Ukraine militärische Technologie einschließlich des Verkaufs türkischer Drohnen an die Ukraine beinhaltet, aber nicht nur. Wissen Sie auch, dass die Türkei an einem Deal arbeitet, um Tarnkappen-Kriegsschiffe an die Ukraine zu verkaufen? Dann arbeiten die Ukraine und die Türkei auch daran, gemeinsam Düsentriebwerke für Militärflugzeuge zu entwickeln. All das ist ziemlich wichtig für die Biden-Administration.
Ich wünschte, man würde in Washington stärker würdigen, wie wichtig die innovativen Drohnentechnologien und -taktiken der Türkei im Kampf gegen Russland auf dem Schlachtfeld in Syrien waren, in der Provinz Idlib, als russische Kräfte zusammen mit den Assad-Truppen die zivilen Schutzzonen bedrohten. Oder auch in Libyen, wo türkische Drohnen in der Lage waren, russische Kräfte, die Teil der sogenannten Wagner-Gruppe, einer Söldnermiliz waren, ebenfalls zum Stillstand zu bringen, was dann den Sturz der von der UN anerkannten Regierung der Nationalen Einheit verhinderte.

Viele Menschen in der Türkei waren misstrauisch gegenüber der kommenden Biden-Administration aufgrund der feindseligen Rhetorik Bidens als Präsidentschaftskandidat gegen die türkische Regierung, und sie erinnerten sich auch an die Unterstützung des terroristischen PKK-Ablegers YPG in Syrien. Ist Biden als Präsident pragmatischer geworden? Bidens Haltung ist in der Tat viel pragmatischer. Ich meine, Biden ist ein traditioneller Transatlantiker, was bedeutet, dass die Nato im Zentrum seines außenpolitischen Denkens steht, und die Türkei mit ihrer erstaunlich wichtigen Geografie und dem zweitgrößten Nato-Militär wäre für die Biden-Administration in einem strategischen Sinne unvermeidlich. Aber wie ich schon sagte, gibt es noch viele schwierige Fragen zu klären. Ich denke, dass Biden im Moment in der Zusammenarbeit mit der YPG in Syrien feststeckt, weil die USA keine Alternativen haben und nicht wollen, dass ihre eigenen Truppen sterben, also würde er lieber die YPG gegen den sogenannten Daesh kämpfen lassen. Zumindest respektiert und versteht Biden aber die Bedenken der Türkei und hofft, dass, wenn sich die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei in anderen Bereichen verbessern, sie in der Lage sein werden, die YPG-Frage auf pragmatische Weise anzugehen - was bedeutet, dass die USA die Zusammenarbeit mit der YPG einstellen würden. Aber im Moment ist das im US-Militär, insbesondere im Zentralkommando, nicht möglich. Es gibt den Glauben, dass die YPG ein zuverlässiger Verbündeter der USA wäre, der sich geopfert habe und eine Art von Belohnung verdiente. Und das ist angesichts der traditionellen US-Außenpolitik, nicht mit einer Terrorgruppe gegen eine andere zu kämpfen, ein völlig heuchlerischer Ansatz. Vielen Dank für das Gespräch!

TRT Deutsch