von Deniz Ünsal
Am 23. November 2020 ist das östliche Mittelmeer Zeuge einer weiteren rechtswidrigen Aktion gegen die Türkei geworden. Eine deutsche Fregatte, die an der von der Europäischen Union geführten Operation IRINI teilnimmt, stoppte und dursuchte ein türkisches Frachtschiff, das humanitäre Hilfe nach Libyen beförderte – ohne die Zustimmung des Flaggenstaates Türkei. Auf dem Papier will die Operation IRINI (griechisch für „Frieden“) das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen das im Bürgerkrieg befindliche Libyen in Übereinstimmung mit der Resolution 2292 (2016) des Sicherheitsrats durchsetzen. Die Mission zielt laut EU darauf ab, Kontrollen auf Schiffen vor der Küste Libyens durchzuführen, die im Verdacht stehen, Waffen zu transportieren. Man kann jedoch nicht von der Hand weisen, dass sich IRINI seit Beginn der Mission von den Kerngedanken entfernt hat. Vor allem aber ist IRINI ein deutlicher Ausdruck dafür geworden, wie einige EU-Mitglieder die Führung der EU-27 wegen ihrer engstirnigen Interessen im östlichen Mittelmeerraum in „Geiselhaft“ genommen haben.
Unterdessen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seinem jüngsten Gastbeitrag für Politico erklärt, dass der libysche Bürgerkrieg als Lackmustest für die EU diene. Es überrascht nicht, dass die stellvertretende UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Stephanie Williams, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2020 gestand, dass das Waffenembargo zu einem „Witz“ geworden ist. Es ist nicht lange her, dass Haftar-treue Milizen und Frankreichs Präsident Macron das Waffenembargo offen verletzten und am Vorabend der Berliner Konferenz, die zur Sicherung des Waffenembargos organisiert wurde, die Ölexporte aus den wichtigsten Häfen Libyens blockierten. Die andauernden feindseligen Aktionen gegen die Türkei haben jüngst unter dem Deckmantel der IRINI-Mission eine aktuelle Debatte im internationalen Recht zum Vorschein gebracht: Meereszonen und Schifffahrtsfreiheit auf hoher See.
Meereszonen
Das UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ) und das Völkergewohnheitsrecht bilden die rechtliche Grundlage für Meereszonen. Diese Zonen werden, kurz beschrieben, in einem dreistufigen System betrachtet. In erster Linie sind die Binnengewässer und das Küstenmeer ausschließlich dem Küstenstaat vorbehalten. Der Festlandsockel und die ausschließliche Wirtschaftszone sind die Gebiete, in denen die Staaten ihre Hoheitsrechte ausüben können, abgesehen von spezifischen Ausnahmen wie dem „Recht der friedlichen Durchfahrt“ (Artikel 17) und der „Strafgerichtsbarkeit an Bord“ (Artikel 27), die von Flaggenstaaten in diesen Zonen unter bestimmten Umständen ausgeübt werden können. Die Hohe See schließlich, die Gegenstand des jüngsten Überfalls der deutschen Fregatte war, ist die Zone, in der alle Anrainer- und Nicht-Anrainerstaaten die in Artikel 87 des SRÜ aufgezählten Freiheiten genießen können – wie etwa die Freiheit der Schifffahrt. Mit anderen Worten: Artikel 87 besagt ausdrücklich, dass die Hohe See allen Staaten offensteht.
Die Schifffahrtsfreiheit ist eine Norm des Völkergewohnheitsrechts. Deshalb ist es aus rechtlicher Sicht eine Plicht, alle Aktivitäten und Handlungen zu unterlassen, die diese Freiheiten gefährden können. Diese Verpflichtung ist verbindlich für alle Staaten, auch für die Nichtvertragsstaaten des SRÜ.
Die EU blieb erneut gleichgültig gegenüber einer offensichtlichen Verletzung der Schifffahrtsfreiheit eines türkischen Schiffes mit humanitärer Hilfe und missachtete dabei, dass die Schifffahrtsfreiheit auf hoher See in der „Mare Liberum“-Lehre (lateinisch für „Freiheit der Meere“) des niederländischen Philosophen Hugo Grotius verankert ist.
Es ist eine Schande, dass die EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, das 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, keinen Schaden an der Verletzung der westfälischen Prinzipien gesehen haben. Es ist zudem eine unglückliche Entwicklung, dass die feindliche Aktion nach der G20-Ansprache von Präsident Erdoğan stattfand. Es ist hervorzuheben, dass Erdoğan in seiner Rede unter anderem deutlich machte, dass die Türkei eine Zukunft mit Europa beabsichtigt.
Resolution 2292 des UN-Sicherheitsrates
Neben den Bestimmungen des SRÜ und den Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts verdient auch die Resolution 2292 des UN-Sicherheitsrats Beachtung. In diesem Rahmen will der UN-Sicherheitsrat zwar seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, die einzige rechtmäßige Regierung Libyens, die Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA), zu unterstützen, doch zielt er in erster Linie darauf ab, den Mitgliedstaaten eine einjährige Ermächtigung zu erteilen, Schiffe auf hoher See vor der Küste Libyens zu inspizieren, die nach oder aus Libyen fahren. Interessanterweise sieht die Resolution, die von der Führung der EU als Grund für die Operation IRINI genannt wird, vor, dass die Mitgliedsstaaten „sich nach Kräften bemühen, vor jeder Inspektion zunächst die Zustimmung des Flaggenstaates des Schiffes einzuholen (...)“. Wie jedoch von den türkischen Behörden bestätigt wurde, haben die Teilnehmer der Operation IRINI nicht die Zustimmung von der Türkei eingeholt, dem Flaggenstaat des besagten Frachtschiffes. Vereinfacht ausgedrückt, ist dieser Überfall unter dem Vorwand der „Inspektion“ eine staatlich geförderte Piraterie. Darüber hinaus heißt es in der Resolution, dass die Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene oder durch regionale Organisationen die Umsetzung des Waffenembargos gegen Libyen durch entsprechende Rücksprachen mit der GNA sicherstellen sollen. Auch wenn einige EU-Mitgliedsstaaten vorgeben, als Friedensvermittler zwischen der GNA, der De-Jure-Regierung, und der illegitimen Regierung Haftars zu agieren, sind sie für ihre Aktivitäten zur Unterstützung der Angriffe des Kriegsherrn bekannt. Die massiven Waffentransfers an die Söldner Haftars und die privaten Söldnertruppen von Wagner zu ignorieren, entspricht nicht den Verpflichtungen der EU und der entsprechenden EU-Mitgliedsstaaten gemäß der Resolution 2292 des UN-Sicherheitsrates. In der Tat sind sie weit davon entfernt, sich mit der GNA „zu beraten“.
Fuat Oktay, der Vizepräsident der Türkei, sagte, dass die EU wieder einmal ihre parteiische Haltung gegen die Türkei und die GNA demonstriert hat. Oktay offenbarte auch, dass die Teilnehmer der Operation IRINI die Zustimmung der Türkei, der NATO und der GNA nicht eingeholt haben. In den früheren Auseinandersetzungen bestand die EU weiterhin darauf, die Tatsache zu ignorieren, dass sie keine Hoheitsgewalt über die Seegebiete im östlichen Mittelmeer hat, was eine grundlegende Auslegung des EU-Rechts ist. Jetzt teilt die Union mit ihren Mitgliedsstaaten die Verantwortung für die Verletzung des Völkerrechts. Staatlich geförderte Piraterie gegen die Schifffahrtsfreiheit auf Hoher See sollte nicht die Modalität zur Sicherung der Hoheitsrechte der EU-Mitgliedstaaten sein. Stattdessen sollte die EU einen soliden Ansatz verfolgen, der ihre Unparteilichkeit im östlichen Mittelmeerraum im Einklang mit dem EU-Recht und dem Völkerrecht gewährleistet. In dieser Hinsicht würde die Verurteilung des plötzlichen Überfalls auf ein Frachtschiff unter türkischer Flagge den Grundstein für einen gesetzestreuen und friedlichen Status quo im östlichen Mittelmeer und in Libyen legen.