Hunderte neue Hinweise nach Missbrauchsvorwürfen in der Katholischen Kirche
Die MHG-Studie sprach von hunderten Fällen sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche seit 1946. Möglicherweise waren die Fälle nur die Spitze des Eisbergs. Seither sind zahlreiche neue Hinweise bei den Bistümern eingegangen.
Symbolbild. Eine Kirchturmspitze im Gegenlicht (DPA)

Es ist bald drei Jahre her, dass die Katholische Kirche ihre große Missbrauchsstudie und mit ihr erschreckende Zahlen veröffentlichte: Mindestens 3677 Minderjährige wurden demnach zwischen 1946 und 2014 in Deutschland von 1670 Klerikern missbraucht.

Spätestens seit Veröffentlichung dieser Studie steckt die Kirche in einer schweren Krise. Erst vor gut zwei Wochen hatte der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, dem Papst seinen Rücktritt angeboten, um, wie er schrieb, „strukturelle Verantwortung“ zu übernehmen. Papst Franziskus lehnte den Rücktritt ab.

Doch das, was die MHG-Studie zu Tage förderte, könnte nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein: Seit Veröffentlichung der Studie sind hunderte neue Hinweise auf mögliche Missbrauchsfälle eingegangen – bei Betroffenen-Initiativen, bei den Bistümern selbst und auch bei der Justiz.

„Beim Eckigen Tisch dürften sich in drei Jahren etwa 250 Menschen deutschlandweit gemeldet haben“, sagt Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative der Deutschen Presse-Agentur – und das sei wohl nach wie vor längst nicht alles: „Ich gehe davon aus, dass auf jede betroffene Person, die sich bislang gemeldet hat, mindestens drei kommen, die abwarten.“

Immer mehr Hinweise auf „Grenzüberschreitungen“ - aber keine offiziellen Zahlen

Auch die Bistümer bekommen immer mehr Hinweise: Allein bei den sieben Bistümern in Bayern waren es mindestens 205, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab, darunter allerdings auch zahlreiche Hinweise auf „Grenzüberschreitungen“, die strafrechtlich nicht als sexueller Missbrauch gewertet werden. Bundesweite Zahlen gibt es nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) nicht.

2020 hatten die Ordensgemeinschaften öffentlich gemacht, dass sich bei ihnen weitere 1412 Personen gemeldet haben, die sich als Betroffene bezeichneten. „Wir reden also von mindestens 5089 Opfern, die der Kirche bekannt sind“, sagt Katsch. „Wenn die verschiedenen Schätzungen auf Basis von Befragungen oder Vergleichszahlen aus dem Ausland, etwa den Niederlanden, stimmen, dann dürfte die Zahl der Betroffenen in der Katholischen Kirche bei etwa 80.000 liegen.“

Beim größten bayerischen Bistum, dem Erzbistum München und Freising von Kardinal Reinhard Marx, gingen nach Angaben eines Sprechers seit Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie rund 130 neue Meldungen ein.

Die Hinweise betrafen den Angaben zufolge allerdings nicht nur den Personenkreis, der in der MHG-Studie berücksichtigt wurde, also Kleriker, Diakone und Ordensleute, sondern auch Pädagogen, Lehrer, und Ehrenamtliche. „Die allermeisten Hinweise bezogen sich auf Grenzverletzungen, die unter der Schwelle der Strafbarkeit lagen, also nicht sexuellen Missbrauch im strafrechtlichen Sinn betrafen“, betont der Sprecher.

Nur wenige Fälle strafrechtlich relevant

Bei 36 dieser 130 Meldungen lag der genannte Tatzeitpunkt sogar noch nach der Veröffentlichung der Studie, die nach den Orten der Universitäten des Forschungskonsortiums – Mannheim, Heidelberg und Gießen – benannt ist, im Herbst 2018. Sie stammen also aus der allerjüngsten Vergangenheit.

In lediglich zehn dieser Fälle „konnte nicht ausgeschlossen werden, dass eine Straftat nach weltlichem Recht vorlag“, sagte der Sprecher. Das Erzbischöfliche Ordinariat hat in zwei Fällen Strafanzeige erstattet.

Und das sind nicht die einzigen dieser Fälle, die die Justiz beschäftigen: Mindestens zehn Verfahren sind derzeit bei Staatsanwaltschaften in Bayern anhängig, wie eine dpa-Umfrage ergab - darunter mit drei die meisten bei der Staatsanwaltschaft Würzburg.

Vor weniger als zwei Wochen machte die Staatsanwaltschaft Memmingen ein Ermittlungsverfahren gegen einen katholischen Geistlichen aus dem Bistum Augsburg bekannt. Der Pfarrer und Dekan wurde nach Bistumsangaben „mit sofortiger Wirkung vom Amt entpflichtet“. Laut Staatsanwaltschaft besteht der Verdacht, „dass sich der Geistliche über Jahre hinweg durch mehrere sexualbezogene Handlungen, die gegenüber einer Person erfolgt sein sollen, strafbar gemacht hat“.

Erhöhte Anzeigenbereitschaft und Wandel

Der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht inzwischen „eine erhöhte Anzeigebereitschaft“ im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in der Kirche: „Die wollen ja mit ihren Emotionen irgendwie fertig werden und wollen, dass das endlich aufhört“, sagt er der dpa. Und er sieht auch einen Wandel in der katholischen Kirche, die sich auch darin ausdrückt, dass die meisten Bistümer inzwischen konsequent Anzeige erstatten, wenn sie glaubhafte Hinweise auf Missbrauch erhalten: „Die frühere Grundhaltung: Schutz der Kirche um jeden Preis, die hat sich schon geändert.“

Pfeiffer sollte die Studie ursprünglich leiten, lehnte dann aber ab, weil - wie er sagt - die Kirche keinen uneingeschränkten Zugang zu den Akten einräumen wollte. Dass die MHG-Studie Lücken hat, überrascht ihn keineswegs. „Das war alles nur Show – mehr nicht“, kritisierte er schon vor anderthalb Jahren, als klar wurde, dass die Studie keine nennenswerten strafrechtlichen Konsequenzen hatte. Sein Vorwurf damals: Marx habe eine ehrliche, transparente Aufarbeitung des Skandals verhindert – Vorwürfe, die DBK und Erzbistum zurückweisen. Schon Anfang 2020 hatte Pfeiffer Marx' Rücktritt gefordert.

Demgegenüber weisen Kritiker, die eine ideologisch motivierte Kampagne gegen die Kirche wittern, darauf hin, dass viele Meldungen angeblichen Missbrauchs erst eingegangen waren, nachdem diese 2010 einen Entschädigungsfonds eingerichtet hatte. Viele Vorwürfe bezögen sich auf strafrechtlich längst verjährte Sachverhalte, die zum Teil lange zurücklägen und häufig sogar Personen betreffen, die längst verstorben seien und sich gegen Anschuldigungen nicht mehr zur Wehr setzen könnten. Neben tatsächlich Betroffenen könnten sich dementsprechend auch Trittbrettfahrer motiviert fühlen, Ansprüche zu stellen.

DPA