Vor dem Hintergrund des Nahost-Konfliktes ist auch in Deutschland eine signifikante Zunahme von sowohl antisemitischem als auch antimuslimischem Rassismus zu vernehmen. Wir müssen uns jedoch davor hüten, gerade in dieser heiklen Situation, gesellschaftliche und religiöse Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Denn Rassismus kann sich gegen jeden wenden.
CLAIM-Allianz warnt vor antimuslimischem Rassismus
Die Organisation CLAIM, die sich für eine Vernetzung und gegen Muslim- und Islamfeindlichkeit einsetzt sowie antimuslimisch motivierte Vorfälle dokumentiert, verzeichnete vom 11. bis 31. Oktober 2023, also in einem Zeitraum von nur zweieinhalb Wochen, 53 Fälle von antimuslimischer Bedrohung, Gewalt und Diskriminierungen in Deutschland. Das seien im Schnitt drei Vorfälle pro Tag, darunter zehn Angriffe auf Moscheen.
„Wir beobachten eine Verschärfung von antimuslimischem Rassismus in Deutschland“, so die Organisation in einer Pressemeldung. Der Verein erklärte des Weiteren, dass er von einer „gravierenden Dunkelziffer antimuslimischer Vorfälle“ ausgehe, die bisher „nicht gemeldet oder erfasst“ wurden. „Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, da bisher keine bundesweiten Beschwerde- und Monitoring-Stellen für antimuslimischen Rassismus vorhanden sind oder Betroffene häufig nicht wissen, an wen sie sich wenden können.“
Rima Hanano, Leiterin von CLAIM, betont in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, dass Moscheen seit der Eskalation des Nahost-Konflikts vermehrt Drohbriefe und Hassmails erhielten. „Es gibt versuchte Brandstiftung. Kinder werden in der Schule aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam beispielsweise gemobbt. Oder von ihnen wird aufgrund ihrer muslimischen Zugehörigkeit eine Positionierung erwartet. Menschen werden auf der Straße verbal angegriffen und mit Terror gleichgesetzt, als ‚Terroristen‘ beschimpft. Das sind Fälle, die uns erreichen“, so Hanano.
Zudem weist Hanano darauf hin, dass antimuslimischer Rassismus in der Mitte der Gesellschaft verankert sei: „Grundsätzlich wissen wir, dass antimuslimischen Narrative ohnehin weit verbreitet und in weiten Teilen der Gesellschaft anschlussfähig sind. Die kommen nicht nur aus der rechten Ecke: Jede zweite Person in Deutschland stimmt antimuslimischen oder muslimfeindlichen Aussagen zu“, sagte die Leiterin von CLAIM.
Kalyon: Verwendete Rhetorik für muslimfeindliche Übergriffe verantwortlich
Auch die Türkisch-Islamischen Union (DITIB) vermeldet seitdem der Nahost-Konflikt wieder entflammt ist, vermehrt Angriffe auf Moscheen in Deutschland. DITIB-Generalsekretär Eyüp Kalyon verweist in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Anadolu auf einen Bericht der DITIB-Antidiskriminierungsstelle. Demnach wurden seit Anfang dieses Jahres 81 Angriffe auf Moscheen dokumentiert. Fast die Hälfte der Übergriffe hätte sich nach dem 7. Oktober ereignet. Es gehe dabei um rassistische Botschaften, Koranschändungen und Übergriffe mit Fäkalien und Schweinefleisch.
Kalyon forderte die verantwortlichen Stellen auf, nachhaltige Schritte zu unternehmen, um die Sicherheit der Moscheen in Deutschland zu garantieren. Die Bundesregierung sei verpflichtet, für die Sicherheit der Moscheen zu sorgen, so wie sie es auch für andere Gotteshäuser, Kirchen und Synagogen tue. Der DITIB-Generalsekretär machte unter anderem die „verwendete Rhetorik“ in der öffentlichen Debatte für die Zunahme der muslimfeindlichen Übergriffe verantwortlich.
KRM: Gewalt, Gesinnungsabfragen, Generalverdacht
Auch der Koordinationsrat der Muslime (KRM), ein Zusammenschluss der großen islamischen Spitzenverbände in Deutschland, warnte in mehreren Mitteilungen vor einer vermehrten antimuslimischer Hetze in Deutschland: „Es werden bewusst Falschinformationen gestreut, wie die Behauptung, Muslime hätten sich nicht distanziert oder in Predigten wäre Hetze betrieben worden. (…) Dass Muslime sich mittlerweile auch für die Taten von Areligiösen verantworten müssen, ist ein Novum und eine neue Eskalationsstufe beim Verleumden und Dämonisieren von Muslimen. (…) Wir, die unterzeichnenden Religionsgemeinschaften, verurteilen die aktuell stark angestiegenen Angriffe und Drohungen gegen Moscheen und Muslime in Deutschland.“
In einer weiteren Mitteilung warnte der KRM vor einer Spaltung der Gesellschaft. „Die bisherige Debatte“, so der KRM, schüre Vorurteile und führe zu verbalen oder tätlichen Angriffen gegenüber Juden und Muslimen. „Jüdinnen, Juden und jüdische Einrichtungen sind antisemitischen verbalen und tätlichen Angriffen ausgesetzt. Seit der Gewalteskalation in Nahost leben sie in großer Sorge vor Übergriffen. Von der handfesten Gewalt sind auch Muslime und Moscheen betroffen, es ist bisher zu Dutzenden Übergriffen auf Muslime und Moscheen gekommen“, so der Koordinationsrat. Ein Aufschrei sei bisher allerdings ausgeblieben. „Den antimuslimischen wie auch antisemitischen extremistischen Spektren wird geradezu in die Hände gespielt.“
Als „eine zutiefst besorgniserregende Entwicklung“ sieht der KRM einen Generalverdacht der Öffentlichkeit, der besonders bei jüngeren Muslimen zu einer Entfremdung führe. Der Rat der Muslime in Deutschland, dem etwa 80 Prozent bzw. 2000 der ca. 2500 Moscheegemeinden angehören, ist zudem alarmiert über eine Stigmatisierungen von muslimischen Schülerinnen und Schülern. So häuften sich in den Schulen „Gesinnungsabfragen“.
Politik warnt vor Generalverdacht gegen Muslime
Auch aus der deutschen Politik kommen nun vermehrt Stimmen, die vor einem Generalverdacht gegenüber Muslimen in Deutschland warnen – so auch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Grünen-Parteivorsitzenden Ricarda Lang. Am deutlichsten drückte es allerdings Bundeskanzler Olaf Scholz während einer Rede zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin aus: Man dürfe nicht denen auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance witterten, über fünf Millionen muslimischen Bürgern pauschal den Platz in der Gesellschaft abzusprechen.
Die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten und die Auswirkungen auf Deutschland geben Anlass zur Sorge. Weder für den aufflammenden Antisemitismus noch für die wachsende Islamfeindlichkeit darf es Toleranz in Deutschland geben. Die Gefahr, dass sich der verbale Hass in körperliche Gewalt umschlägt und das gesellschaftliche Zusammenleben vergiftet, ist hoch. Antisemitismus, antimuslimischer Rassismus und jede weitere Art gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben.
Studien zeigen, dass Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus allgegenwärtig, im Alltag weit verbreitet und bis tief in die Mitte der Gesellschaft angelangt sind. Die Gefahr des antimuslimischen und antijüdischen Rassismus ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, gerade in diesen Krisenzeiten, nicht zu unterschätzen. Extremisten jeglicher Couleur und andere „völlig integrierte Menschenfeinde“, die jetzt nach Möglichkeiten suchen, bestimmte Gruppen der Gesellschaft zu stigmatisieren, auszugrenzen, gegeneinander auszuspielen oder zunächst verbal und später physisch anzugreifen, dürfen keine Chance in Deutschland erhalten.
In Deutschland muss ein gemeinsames christliches, jüdisches und muslimisches Leben möglich sein. Der Nahost-Konflikt rechtfertigt weder Muslimfeindlichkeit noch Antisemitismus noch irgendeine andere Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.