Der seit 2015 jährlich erscheinende Europäische Islamophobie-Report macht deutlich, dass der antimuslimische Rassismus in ganz Europa zunimmt. Tag für Tag wird ein neuer Gesetzesentwurf diskutiert oder verabschiedet, der die Freiheiten der Muslime einschränkt oder die Diskriminierung gegenüber Muslimen rechtfertigt. Die Liste ist lang: Halal-Schächtungsverbote, Beschneidungsverbote, Burkaverbote, Verbot des Fastens, Kopftuchverbote, Burkini-Verbot, Koranverbote, Gesetzesentwürfe zur Einschränkung der islamischen Religionsausübung, Brautgabenverbote, Moscheeverbote, Minarettverbote, Verbot des „politischen Islams“, Verpflichtung zum Händeschütteln usw.
Die Sprache bzw. das Narrativ der europäischen Eliten, der Politik und der Medien ist geprägt von diskriminierenden und rassistischen Diskursen gegenüber Muslimen. Muslimische Aktivisten und Wissenschaftler, die sich dieser Rhetorik und Politik widersetzen, werden unter Druck gesetzt, NGOs werden mit fadenscheinigen Argumenten geschlossen. Muslime müssen als Sündenböcke für die Massen herhalten. Sie werden zu einem Sicherheitsproblem erklärt, weil man ihren Glauben mit Terrorismus assoziiert. Selbstverständlich melden sich in diesem Diskurs auch kritische Stimmen zu Wort, die zur Besonnenheit aufrufen, die aber bei diesem Chaos weitestgehend ungehört bleiben.
Nahezu alle Blicke sind auf die Muslime gerichtet. Es werden endlose Debatten über den Islam geführt. Dem Prinzip des Säkularismus widersprechend versuchen europäische Staaten, sich in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einzumischen und über die Innenministerien einen nationalen „Staatsislam“ in Form eines deutschen Islam, französischen Islam usw. zu etablieren. Während Akteure, die dieses Vorhaben unterstützen, als „liberale, progressive und vorbildliche Muslime“ hervorgehoben werden, haben diejenigen, die sich gegen die genannten Pläne aussprechen, mit Anschuldigungen wie „radikale, schlechte und unerwünschte Muslime“ zu kämpfen und werden kriminalisiert.
Angesichts dieser endlosen Debatten, den sich häufenden Gesetzesentwürfen und den medienwirksam inszenierten Aktionen wird es einem europäischen Otto Normalbürger kaum möglich sein, den Vorwürfen der Islamkritiker, dass der Islam eine Bedrohung sei, nicht zu glauben.
Schauen wir einer offensichtlichen Wahrheit ins Gesicht: Die in Europa lebenden muslimischen Minderheiten haben keine ernstzunehmende wirtschaftliche oder politische Macht. Sie sind in der Politik, in den Medien, im akademischen und kulturellen Leben so gut wie nicht vertreten. Wir sprechen zudem nicht von einem dramatisch wachsenden Bevölkerungsanteil, wie von Islamkritikern gerne kolportiert – und folgerichtig werden sie weder im nächsten noch im übernächsten Jahrhundert eben nicht die Mehrheit stellen. Alles in allem handelt es sich um eine sehr schwache Minderheit. Daher ist kaum mit rechtlichen, politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Konsequenzen für die Marginalisierung und Diskriminierung von Muslimen zu rechnen. Für diese Hypothese gibt es einen einfachen Beweis: Stellen wir uns vor, dass die geführten Debatten über Muslime oder die vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe in Zusammenhang mit einer anderen Religionsgemeinschaft stünden. Ersetzen wir (für einen Moment) das Wort Islam mit einer anderen Religion wie dem Christentum, Judentum oder Buddhismus. Die gesellschaftlichen Reaktionen würden, für uns alle nicht überraschend, wohl andere sein.
Eins sollte klargestellt werden: Es wird nicht behauptet, dass Muslime keine Probleme haben, die nicht zu kritisieren sind. Von Gewalt an Frauen bis hin zu Radikalisierung und Terrorismus gibt es viele Probleme in muslimischen Gesellschaften. Das Ziel hier ist nicht die Infragestellung der legalen Schritte. Doch sollte offensichtlich sein, dass beispielsweise im Namen des Kampfes gegen Radikalisierung ein Verbot zum Halal-Schächten oder das Problematisieren von Gebeten oder des männlichen Bartwuchses als Indiz für selbige nicht mehr mit der angeblichen Intention vereinbar sind und sich klar gegen jedwede sichtbare muslimische Religiosität richten. Obwohl gesellschaftliche Fehlentwicklungen wie Gewalt an Frauen, Terrorismus und Radikalisierung in allen Religionen und Gesellschaften existieren, werden ausschließlich der Islam und die Muslime vor diesem Hintergrund mit einem essentialistischen Diskurs konfrontiert.
Doch was passiert eigentlich hinter all dem Getöse um den Islam und die Muslime? Was soll dadurch verschleiert werden? Um diese Frage beantworten zu können, muss darauf geschaut werden, aus welchen Epochen das heutige Europa entstammt und wo es sich jetzt befindet. In nur 30 Jahren hat sich Europa zu einem Konstrukt entwickelt, in dem rechtsextreme Ideen alltäglich geworden sind. Sie sind sogar im politischen Zentrum salonfähig geworden. Der Multikulturalismus wurde in dieser Zeit für bankrott erklärt und rechtsextreme Parteien, die in der Vergangenheit noch ausgegrenzt wurden, sind heute zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in die nationalen Parlamente eingezogen und agieren sogar als Koalitionspartner in Regierungen. Angestoßene Diskurse von Politikern wie Gert Wilders, Heinz-Cristian Strache, Marine Le Pen und Alexander Gauland prägen die Innenpolitik. Politiker der politischen Mitte wie Emmanuel Macron, Sebastian Kurz oder Mark Rutte haben mit einer Adaption und Umsetzung von Diskursen rechtsextremer Parteien begonnen. So entsteht ein Europa, das von Tag zu Tag autoritärer wird.
Macrons Wandel vom einstigen Hoffnungsträger des Liberalismus ist ein gutes Beispiel für die aktuelle Entwicklung. Macron, der von den strukturellen und wirtschaftlichen Problemen seines Landes überrollt wird, macht einerseits Muslime zur Wurzel allen Übels, um seine Macht nicht zu verlieren und andererseits legt er eine Politik an den Tag, die zuvor nur unter Marine Le Pen für möglich gehalten wurde.
Rufen wir uns an dieser Stelle in Erinnerung, dass Macron nach den Terroranschlägen von Daesh in Frankreich nicht den Kampf gegen Radikalisierung und terroristische Organisationen ausrief, sondern gegen Muslime insgesamt. Wie sonst ist es aufzufassen, wenn das Halal-Schächten als Indiz für islamistisches Handeln bewertet wird und muslimische NGOs mit haltlosen Vorwürfen (von einem auf den anderen Tag) geschlossen werden. Der Appell Macrons an den Islamischen Dachverband in Frankreich CFCM, man solle doch mit einer Erklärung klarstellen, den Werten der Republik treu ergeben zu sein, bringt wohl das Problem auf den Punkt. Wie formulierte es doch gleich der französische Philosoph Roland Barthes: „Faschismus heißt nicht am Sagen zu hindern, er heißt zum Sagen zwingen.“
Frankreich steht vor großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Der langjährige Protest der „Gelbwesten“ ist ein augenscheinliches Symptom dieser Missstände. Die Proteste flammten jüngst wieder auf, da sich die wirtschaftlichen Probleme des Landes aufgrund der Corona-Pandemie weiter verschärft haben. Die Gewaltbereitschaft der französischen Polizei, die diese Proteste unterdrücken möchte, nimmt von Tag zu Tag zu. Und anstatt diese Gewalt zu unterbinden, hat Macron versucht, das Veröffentlichen von Aufnahmen, wo Sicherheitskräfte zu sehen sind, mit einem Gesetzesentwurf verbieten zu lassen. Macrons Interventionen und Äußerungen in Richtung der US-amerikanischen Medien, die ihn kritisieren, vervollständigen das derzeitige Gesamtbild.
Wie immer offenkundiger wird, sind es nicht nur Muslime, die dem zunehmenden Autoritarismus und Faschismus in Frankreich zum Opfer fallen. Denn die Geschichte lehrt uns, dass der Faschismus zunächst auf schwache Minderheiten einschlägt, danach auf Andersdenkende losgeht und schließlich die gesamte Gesellschaft anvisiert. Daher ist es an der Zeit, dass sich Europa wachrüttelt. Wenn das neue Europa durch die entfachte Islamfeindlichkeit Gestalt annehmen sollte, wird es kein freiheitlicheres, sondern ein autoritäres Europa sein. Dass dieses neue Europa (auf kurz oder lang) nicht nur den Muslimen schaden wird, liegt wohl auf der Hand.
Was soll mittels der Islamfeindlichkeit verschleiert werden?
5 Dez. 2020
Fußend auf der wachsenden Islamfeindlichkeit wird ein neues Europa geschaffen – kein liberales, sondern ein autoritäreres und nationalistischeres.
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