Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lautete der allgemeine Tenor: Nie wieder Holocaust! Und zumindest für Europa schien es unmöglich, dass sich solche Geschehnisse wiederholen könnten. Doch schon 50 Jahre später, am Ende des 20. Jahrhunderts, wurden wir während des Krieges gegen Bosnien-Herzegowina erneut Zeug*innen eines Völkermords - von ethnischen Säuberungen, Konzentrationslagern für Zivilist*innen, systematischen Massenvergewaltigungen und Massengräbern. Mitten in Europa!
Der Völkermord in der UN-geschützten Enklave Srebrenica
Der Gipfel der grauenhaften Geschehnisse war das im Juli 1995 von großserbischen Nationalist*innen begangene Massaker an Bosniak*innen in der UN-geschützten Enklave Srebrenica. In nur wenigen Tagen wurden 8372 Menschen getötet. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat das schlimmste Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als Völkermord bezeichnet. Am 15. Januar 2009 hat das Europäische Parlament eine Srebrenica-Resolution verabschiedet, die den 11. Juli als Gedenktag an die Opfer des Völkermords markiert.
Wenn wir nun diesen Völkermord genauer betrachten, dann müssen wir uns zwei wichtige Tatsachen vor Augen halten: Erstens ist Völkermord ein Verbrechen der politischen, militärischen und polizeilichen Strukturen: also etwas, das mit einer gewissen Systematik verübt wird. Er geschieht nicht auf der Ebene des Individuums. Daher kann zweitens auch die Leugnung durch genau jene Strukturen und jenes verantwortlichen Systems als seine letzte Stufe und als das eigentliche Indiz dafür gesehen werden, dass es sich auch wirklich um dieses Phänomen des Völkermords handelt, wie es die serbische Friedensnobelpreis-Kandidatin und Völkermordforscherin Prof. Janja Beč-Neumann in ihren Vorträgen immer wieder betonte.
Die Wurzeln des Bösen
Wie war der Völkermord von Srebrenica überhaupt möglich? Wo genau sind seine Wurzeln zu verorten? Wir können mit Sicherheit sagen, dass diese größtenteils in der nicht ausreichend aufgearbeiteten und verfälschten Geschichte des Balkans der letzten 600 Jahren liegen. Auf Grundlage einer solchen Pseudogeschichte und instrumentalisierten Literatur (insbesondere des Epos), die das Feindbild eines Andersgläubigen stets ins Bewusstsein rief, wurden bestimmte Identitäten und großnationalistische Ideologien auf dem Balkan konstituiert. Dieses Konzept hat durch das Bildungswesen und durch bestimmte Segmente der Volkskultur Eingang in die Familien gefunden. So konnte der Hass auf den vermeintlich anderen und andersartigen, der eigentlich auf einer Fiktion beruht, durch Schule und häusliche Erziehung am Köcheln gehalten werden.
In diesem Kontext kann man die Ansicht des serbischen Schriftstellers Vladimir Bulatović besser verstehen, der einst sagte, dass „jeder Jugoslawe für sein durchschnittliches Leben von 60 Jahren fünf Jahrhunderte unter den Türken verbringt". Somit wird uns auch die Aussage des wegen Völkermords verurteilten Generals Ratko Mladić viel klarer, als er nach der Besetzung von Srebrenica am 11. Juli 1995 sagte, dass nun endlich die Zeit gekommen sei, in der die Serben, nach dem Aufstand gegen die Dahija (in Anspielung auf den ersten serbischen Aufstand von 1804) „Vergeltung gegen die Türken“ in diesen Gebieten üben können. Prof. Marko Šuica von der Universität in Belgrad definiert diese Aussage als eine Verbindung mit dem negativen Stereotyp eines Türken oder Bosniaken aus der Enklave Srebrenica, um die Verbrechen gegen diese Menschen zu motivieren und zu rechtfertigen.
Offener Diskurs als Basis für Auseinandersetzung
Welche Bedeutung haben die gefällten Urteile des Gerichtshofs in Den Haag für die Beziehungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens – insbesondere für die junge Generation, die mit den Geschehnissen in den 1990er Jahren konfrontiert wird? Die Phase nach dem Genozid von Srebrenica lässt sich mit der Situation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Erst der Nürnberger Prozess, bei dem die ranghöchsten Nazi-Funktionäre verurteilt wurden, bildete eine Grundlage für die Distanzierung des deutschen Volkes von der nationalsozialistischen Ideologie. Diese Auseinandersetzung hat jedoch erst in der zweiten Generation, also mehr als 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer den Opfern gerechten Weise stattgefunden.
So kommt auch dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag – trotz all seiner Schwächen – die Rolle zu, die Basis für die Aufarbeitung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu schaffen. Dadurch könnten die künftigen Beziehungen der Menschen in diesen Gebieten neu gestaltet werden. Gleichzeitig können wir, wie im Fall von Nazi-Deutschland, nicht erwarten, dass sich eine große Anzahl der heutigen Politiker*innen, Militärs oder Beamt*innen von solchen Verbrechen distanziert - da viele direkt oder indirekt daran beteiligt waren. Jedoch bleibt uns die Hoffnung, dass insbesondere die nachkommenden Generationen in und aus den Westbalkan-Staaten künftig zu einem konstruktiven und versöhnlichen Umgang mit der Geschichte fähig sein werden. Die Grundlagen einer solchen Auseinandersetzung werden dann das Eingeständnis und der Dialog sein, „denn, wenn Sie sagen, dass so etwas nicht passiert ist, dann töten Sie eigentlich das Opfer ein zweites Mal“. Dies sind die mahnenden Worte des Autors und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel.
Die Wurzeln des Hasses, die sich, wie bereits erwähnt, hauptsächlich als Pseudogeschichte in einer instrumentalisierten Literatur, im Bildungssystem sowie in bestimmten Segmenten der Volkskultur und der Erziehung wie ein rhizomatisches Geflecht mit unzähligen gegenseitigen Referenzen ausgebreitet haben, sollten durch einen offenen, menschlichen und objektiven gesellschaftlichen Diskurs dekonstruiert werden.
„Don't forget Srebrenica“ ist ein Teil dieses Diskurses. Auf diese Art und Weise setzen wir uns für eine friedliche Welt, für die Gerechtigkeit und für das Gute ein. Denn nur das Gute kann das Böse abwehren; und dauerhafter Frieden kann nur dort eintreten, wo Gerechtigkeit herrscht.