Ein augenscheinlich ganz normaler Samstagvormittag in Crawley, England. Aber sollte man als EU-Bürger nicht besser aufpassen, wenn man das Haus verlässt? Hat das stolze Land vielleicht schon den Tunnel unter dem Kanal zugesperrt, die Flughäfen für Maschinen aus Europa geschlossen - oder sieht man Schilder am Straßenrand, die uns darauf hinweisen, dass wir hier nicht mehr willkommen sind? Und was passiert, sollte ich mich dennoch auf meinem Bahnhof wagen? Wahrscheinlich Hochglanzschilder wie in einem Apartheidsystem, die unmissverständlich verkünden, dass der vordere Teil des Bahnsteigs - und somit die erste Klasse - für britische Bürger, der hintere Teil - und somit die Holzklasse - für uns „Ausländer“ reserviert seien.
Glaubt man den Brexit-Kritikern könnten diese überzogenen Befürchtungen schon bald Realität werden. Für alle anderen Menschen sieht genau diese Realität aber komplett anders aus - nicht nur hier im Süden des Vereinigten Königreiches.
In der Tat hat die EU Frieden geschaffen
Auf meinem Weg in die Innenstadt passierte ich die „Memorial Gardens“, also eine Stätte, wo Menschen an die Verstorbenen gedenken. Auch an jene, die in den beiden Weltkriegen gestorben sind. Mein erster Gedanke, bevor ich diesen Beitrag begann zu verfassen, war folgender: Ein Krieg in Europa, ein Krieg zwischen zum Beispiel dem Vereinigten Königreich und Frankreich, oder zwischen Belgien und Deutschland ist unmöglich geworden. Das Europa, das aus der Asche des von den Nationalsozialisten zerstörten Kontinents hervorging, wurde zu einem Musterbeispiel für zwischenstaatliche Kooperation, Freundschaft, Hilfe - und vor allem Frieden.
Beinahe 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstehen wir uns heute alle als Weltbürger, oder Europabürger - und das nicht seit gestern. Es stimmt natürlich, dass die EU dem Nationalsozialismus kein Ende gesetzt hat. Sie ist aber das positive Resultat dieses verabscheuenswürdigen Krieges, und verdient dafür allen Respekt.
Was die Menschen hier im südlichen Green Belt berührt, ist aber eine ganz andere Frage. Obwohl niemand noch einmal einen Krieg zwischen Freunden miterleben möchte, fragt man sich, ob die heutige EU, dieser immer größere werdende Superstaat mit einer immer grösser werden, unkontrollierten Bürokratie, wirklich noch notwendig ist. Können Freunde nicht anders miteinander umgehen?
Was spricht gegen den Brexit?
Der Brexit wird natürlich weiterhin für Unruhe und Unstimmigkeiten zwischen Brüssel und London sorgen - aber wie gesagt: Ehemalige Feinde und seit dem Ende des 2. Weltkrieges engste Freunde, sollten in der Lage sein, genau diese zu überkommen.
Besonders heikel wird die Übergangsphase – und es ist eigentlich sicher, dass nach dem nun garantierten Austritt zum 31. Januar 2020 der „richtige“ Austritt noch viele Jahre danach nicht vollzogen sein wird. Faktisch wird das Vereinigte Königreich ab dem 1. Februar 2020 nicht mehr Teil der EU sein, aber viele Gesetze bleiben in Kraft bis zum finalen Bye-Bye.
Des Weiteren muss London mit fast allen Teilen der Welt neue Handelsabkommen ausarbeiten und selbst Brexit-Befürworter wissen, dass das viele Jahre dauern wird. Also muss London versuchen, nicht temporär vom Welthandel abgenabelt zu werden.
Und dann gibt es da natürlich die große Politik: Premierminister Boris Johnson wird dringend darum bemüht sein, dem Vorurteil entgegenzusteuern, welches besagt, dass der Brexit den Einfluss des Vereinigten Königreiches auf null reduzieren werde.
Welche falschen Annahmen gibt es?
Erstens: Manche EU-Bürger beschweren sich darüber, dass sie sich nun registrieren lassen müssen. Es geht dabei um das sogenannte Settlement Scheme. Diese Kommentatoren übersehen, dass jeder britische Bürger, der in einem EU-Land arbeiten oder leben will, schon immer genau das machen musste: also eine offizielle Registrierung bei den lokalen Behörden. Dafür bekommt man einen offiziellen Status und Zugang zum Gesundheitssystem - und eine Foto-ID noch dazu. Nur Vorteile also, und das gab es bisher für EU-Bürger im Vereinigten Königreich nicht - wenn überhaupt auf freiwilliger Basis, aber kaum jemand benutzte diesen Service. Jetzt sagen manche Brexit-Gegner, das sei unfair – was ein totales Missverständnis darstellt; zum ersten Mal wird unser Status als EU-Bürger im Vereinigten Königreich offiziell beglaubigt. Also ein großer Vorteil.
Zweitens: Manche behaupten, wir EU-Bürger könnten in der post-Brexit Ära keine Jobs mehr finden. Als ich mich 1987 als Student zum ersten Mal in London bei der Steuerbehörde anlässlich eines Teilzeitjobs registrierte, gab es weder das Maastricht-Abkommen, noch andere spezielle Regelungen für EU-Bürger. Aber es gab auch keinerlei bürokratische Hürden. Die Frage war nur: „Suchen Sie Arbeit oder haben Sie bereits ein Jobangebot?“ Und dann bekam man im Idealfall seine Steuernummer und fing an zu arbeiten. Warum sollten jetzt hochqualifizierte Menschen aus anderen europäischen Staaten nicht mehr willkommen sein? Und warum sollten hochqualifizierte Bürger aus dem Vereinigten Königreich in Europa nicht mehr begehrt sein? Eine nicht haltbare Annahme meiner Meinung nach. EU Bürger waren hier schon immer sehr beliebt - und auch umgekehrt.
Und drittens: Das Vereinigte Königreich sei nun ein Platz, wo Ausländerhass regiert und das würde nach dem Brexit nur noch schlimmer werden. Das ist wohl die unwahrscheinlichste aller Annahmen. Denn es gibt nicht viele Länder auf der Welt, wo Multikultur, Integration und Fremdenfreundlichkeit so groß geschrieben werden wie hier. Auf meinem heutigen Gang zum Buchgeschäft passierte ich erstens einen Tempel, dann eine indische Stätte und danach einen viele Jahrhunderte alten christlichen Friedhof. Religion, Hautfarbe, persönliche Orientierungen, Lebensstils etc. werden nicht angeprangert.
Also zusammengefasst: Ein ganz normaler Spaziergang, an einem ganz normalen Samstagvormittag – die Ruhe vor dem Sturm bezieht sich wohl eher auf die Wettervorhersage, nicht die Realität in der zukünftigen post-Brexit Gesellschaft.