Das Massaker von Srebrenica: Region weiterhin ein Krisenherd
Im Juli 1995 wurden im bosnischen Srebrenica mehr als 8300 muslimische Bosniaken von serbischen Truppen auf grausamste Weise ermordet. Auch fast 30 Jahre nach dem Völkermord kommen ethnische Spannungen in der Region nicht zur Ruhe.
UN und EU erinnern an Jahrestag des Genozids an Muslimen in Srebrenica / Photo: AA (AA)

Am 11. Juli 1995 ereignete sich in der bosnischen Ortschaft Srebrenica, vor den Türen Europas, eines der blutigsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens infolge Bürgerkriegen zwischen 1986 und 1992 wurde Bosnien-Herzegowina als unabhängiger Staat ausgerufen. Dem ging ein Referendum unter der Führung von Alija Izetbegovic, dem legendären bosnischen Politiker und ersten Präsidenten des neuen Staates, voraus. Die Unabhängigkeit von Bosnien wurde, anders als von den USA, westlichen Ländern und der UN, von den Serben nicht akzeptiert. Serbische Truppen marschierten ein, und zahlreiche bosnische Städte wurden besetzt.

Das Massaker, das folgen sollte, wurde durch die Versäumnisse der NATO, insbesondere niederländischer Truppen, ermöglicht. Eigentlich galt Srebrenica als „sichere Zone“, weshalb die Bosnier ihre Waffen abgegeben hatten. Als sich die serbischen Truppen näherten, blieben ihre Anfragen nach einer Rückgabe ihrer Waffen ohne Erfolg. Sie blieben vollständig ohne Schutz. Vor den Augen von „Friedenstruppen“ wurden bosnische Jungen und Männer zwischen 12 und 77 Jahren von den Mädchen und Frauen getrennt. Es hieß, man wolle sie „wegen Kriegsverbrechen befragen“. Die grausame Wahrheit war aber eine systematische Ermordung. Obwohl es bereits erste Berichte über die Erschießung von unbewaffneten bosnischen Männern gab, lieferten die niederländischen Truppen rund 5000 Muslime, die Schutz in ihrem Stützpunkt im Dorf Potocari suchten, an die Serben aus. Eine Luftunterstützung durch die NATO blieb aus. Beim schlimmsten Kriegsverbrechen und Genozid in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wurden vor den Augen von NATO-Soldaten binnen nur 5 Tagen mehr als 8300 Muslime ermordet.

Die bosnischen Muslime standen völlig ohne Schutz den serbischen Truppen entgegen und wurden in aller Ruhe hingerichtet. Die dringend nötige Luftunterstützung gegen serbische Truppen traf unter Verweis auf Formalitäten bei der Anfrage zu spät ein und war vollkommen schwach. Genauso wie die niederländischen Truppen, die unzureichend ausgerüstet und zahlenmäßig unterlegen waren. Hinzu kommt, dass sie persönlich an der Deportation von mehr als 300 muslimischen Jungen und Männern beteiligt waren. Das Massaker hätte verhindert werden können, doch die Reaktion auf die Aktionen der serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Radovan Karadzic fiel unglaublich schwach aus. Europa und die NATO versagten. Das größte Militärbündnis der Welt schaffte es nicht, ein paar Tausend Menschen in Schutz zu nehmen. Stattdessen überließen es sie dem sicheren Tod. Als die NATO mit „Operation Deliberate Force“ im August und September durchgriff, war es bereits zu spät.

Als das Massaker lief: Niederländischer Offizier posierte mit Kriegsverbrecher Mladic

Besonders schmerzhaft ist auch, dass Thomas Karremans, ein niederländischer Offizier und Chef der „Dutchbat“-Truppen, die eigentlich die muslimische Bevölkerung in Srebrenica beschützen sollten, zu keiner Zeit einem Gerichtsverfahren unterzogen wurde. Karadzic und Mladic mögen zwar verurteilt worden sein, doch die niederländischen Truppen und Karremans, der am 12. Juli, also als das Massaker bereits im Gange war, mit Mladic posierte, die Deportation der Muslime als „logistische Meisterleistung bezeichnete und sich bei seinem Abzug aus Srebrenica nach dem Massaker bei Mladic bedankte sowie Geschenke entgegennahm, tragen wesentliche Mitschuld am Verbrechen. Das Zusammenspiel aus ihrem Nicht-Eingreifen, das fast schon freundschaftliche Verhältnis zu den Mördern und die Vernachlässigung des NATO-Schutzes für die muslimische Bevölkerung führten zu einem beispiellosen Schmerz, der Jahrzehnte lang nicht abklingen wird.

Ethnische Spannungen, politische Differenzen: Der Balkan kommt nicht zur Ruhe

Heute ist die Region weiterhin ein Krisenherd. Ethnische Spannungen sowie politische Differenzen bestimmen immer wieder die Agenda. Wie schon damals bei Bosnien-Herzegowina erkennt Serbien die 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos nicht an. Das sorgt ständig für Kurzschlusshandlungen. Mal geht es um die Vergabe von kosovarischen Kennzeichen an nördliche Gebiete des Kosovo mit einer überwiegend serbischen Bevölkerung, mal handelt es sich um Streitigkeiten zu Wahlergebnissen. Die ethnische und politische Zusammensetzung der Region macht sie anfällig für regelmäßige Zusammenstöße. Die Lage kann auch sehr schnell sehr stark eskalieren. Bei den jüngsten Spannungen gerieten NATO-Truppen zwischen die Fronten und wurden von serbischen Demonstranten ins Visier genommen. Nachdem dutzende NATO-Soldaten verletzt wurden, entsandten mehrere Länder, darunter auch Türkiye, Verstärkung. Serbien droht oft, Soldaten zu entsenden, um die eigenen Landsleute zu schützen.

Auch in Bosnien ist es kaum ruhiger. Wie zerbrechlich, explosiv und kompliziert die ethnische und soziologische Zusammensetzung ist, zeigt allein das beispiellose Regierungssystem im Land. Kaum ein anderes Land hat ein derart haariges System bei Wahlen und der Regierung. So gibt es etwa nicht einen, sondern drei Präsidenten, nicht eine Handvoll, sondern mehr als 130 Minister. Spaltungsbestrebungen der serbischen Entität „Republik Srpska“ lassen die Situation hochkochen. Der Chef der Entität, Milorad Dodik, versammelt mit seiner nationalistischen Rhetorik immer mehr Anhänger um sich. Die Differenzen im Umgang mit dem Massaker von Srebrenica sind ebenfalls noch frisch. Immer noch verehren viele Serben Mladic sowie Karadzic als Nationalhelden.

Ständige Kriegsgefahr im Balkan: EU und NATO müssen diesmal bereit zum Durchgreifen sein

Die Region kommt also einfach nicht zur Ruhe. Ständig gibt es neuen Ärger. Umso gefährlicher ist es, dass die Lage sehr schnell außer Kontrolle geraten kann. Das Pulverfass könnte jeden Moment explodieren, zumal in der Ukraine ein Krieg tobt und für Neupositionierungen auch im Balkan, besonders bei den Serben, sorgt. Wegen ihrer slawischen Herkunft und ihres orthodox-christlichen Glaubens suchen sie die Nähe zu Moskau, jetzt noch stärker. Das beeinflusst das Gleichgewicht in der Region. Allein noch so kleine Spannungen zeigen, dass die Grundlage für einen neuen Krieg im Balkan besteht. Die Erinnerungen an die 90er Jahre im Balkan sind noch wach. Die meisten Länder haben sich nicht erholt, sind ohnehin innenpolitisch instabil und könnten infolge eines Krieges völlig in den Abgrund rutschen.

Um das zu verhindern, dürfen nicht nur vage Erklärungen aus europäischen Hauptstädten kommen, sondern die Lage mit einem akuten Eskalationspotential muss aktiv im Auge behalten werden. Die Ukraine darf nicht dazu führen, dass eine weitere Region vor der Tür Europas vernachlässigt wird. Nach dem Ukraine-Konflikt würde ein zusätzlicher Krieg Europa schließlich an seine Belastungsgrenze bringen. Sowohl militärisch als auch diplomatisch muss eine starke Präsenz sowohl der EU als auch der NATO aufrechterhalten werden, um bei unerwünschten Fällen im Balkan schnell und vor allem ausschlaggebend einschreiten zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich die bösen Erinnerungen aus dem Krieg in Bosnien wiederholen. Um neue Srebrenica-Massaker zu verhindern, darf das Engagement im Balkan diesmal nicht schwach ausfallen. Frühere Fehler dürfen nicht wiederkehren.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com